Leben ohne Norm
Es ist für mich nicht leicht, nach dem Paradiesvogelfest ins normale Leben zurückzufinden, auch wenn sich die Normalität meines Lebens ohnehin in Grenzen hält. Das Wort „Normalität“ beschreibt ja einen der Norm entsprechenden Gesamtzustand.
Wer legt diese Normen eigentlich fest?
Oft sind wir es selbst, gegenseitig.
Ich erinnere mich, wie ich vor Jahren mit meinem damaligen Freund zu dessen Eltern nach Hause kam. Die Beiden saßen im Heizungskeller an einem Resopaltisch. Drei Nachbarn waren da. Die Mutter drückte einem der Nachbarn gerade einen Pickel im Gesicht aus. Die Männer hatten Jogginghosen und Unterhemden an.
„Wie läufst Du denn wieder rum?“ wurde aber stattdessen der Sohn begrüßt. Der nämlich hatte eine rote Jeans an.
Da dachte ich mir auch: es ist erstaunlich, wie sich Menschen mit größter Selbstverständlichkeit aufgrund einer roten Jeans zu Richtern über die Normalität aufschwingen, während sie selbst biertrinkend in Jogginghosen an Resopaltischen im Heizungskeller sitzen und sich gegenseitig Pickel ausdrücken.
Jetzt aber bin wiederum ich in Gefahr, mich zum Richter über diese fünf Menschen im Heizungskeller aufzuschwingen. Und so geht das dann immer weiter. Jeder setzt sich selbst als Maß aller Dinge, schaut kopfschüttelnd den Anderen beim Anderssein zu – und allen tut’s weh.
Ein faszinierendes Beispiel für ein Leben außerhalb aller Normen erlebte ich die vergangenen vierzehn Tage mit einer Abordnung von gut 15 Menschen aus dem Hambacher Wald. Sie waren zur Bauwoche für das Paradiesvogelfest angereist und blieben einige Tage über das Festival hinaus.
Sie leben im Wald. Auf Bäumen. In einer ganzen Welt in den Baumkronen, mit Baumhäusern, Hängebrücken, Plattformen und mehrstöckigen Baum-Towers.
Das Leben im Hambi ist allerdings weniger romantisch, als das klingt.
Alle Einrichtungen – wie Küchen oder Komposttoiletten – die sich nicht in der Sicherheit der Bäume befinden, werden regelmäßig von Polizei oder Werkschutz zerstört.
Des Nachts kreisen sehr oft Polizeihubschrauber über den Baumhäusern. Mitunter wird der Wald taghell ausgeleuchtet. Dann gibt es wieder Lautsprecherdurchsagen Morgens um 3. Und Tag und Nacht kommt der Lärm der riesigen Baggermonster dazu, die in einem 400 Meter tiefen Loch nach Kohle graben.
Diese Situation hat natürlich auch emotionale Folgen für die Besetzer.
Als sie auf Schloss Weitersroda ankamen, mussten sie sich erst daran gewöhnen, sich in der Legalität zu befinden. Nach und nach fuhren sie ihre Schutzschilder herunter und begannen, das Gefühl der Sicherheit zu genießen.
Aber was für wunderbare Menschen sind das! Frei, wild, ungezähmt und voller Liebe.
Ach, wäre das doch die Normalität.
Dann bräuchte es keine Normen mehr…
Prinz Chaos II.
Weitersroda
Foto: Südthüringer Rundschau