Mögen Sie Zensuren?
Besinnung für den 18. August 2019, den 9. Sonntag nach Trinitatis
Westhausen. Können Sie, liebe Leserin, lieber Leser, sich vorstellen, dass Sie von Ihrer Familie eine Zensur für Ihren heutigen Sonntagsbraten bekommen? Ach nein, sagen Sie vielleicht. Meine Familie hat sich Schweinebraten mit Klößen gewünscht. Da habe ich immer Angst, ob sie mir richtig gelingen und nicht zerkochen. Aber meine Weihnachtsgans, die war gut!
Oder wie wär‘s mit Ihnen, liebe Leserin, lieber Leser, möchten Sie eine Zensur haben für das Autofahren mit der Familie am vorigen Wochenende? Lieber nicht, denken Sie, das scheußliche Wetter, und dann der Stau auf der Autobahn im Dunkeln, ich war so nervös, habe dauernd geschimpft. Beinahe hätte es gekracht! Nein, nein, da war die Fahrt zu Omas Geburtstag besser. Oder als ich mit der Nachbarin zum Besuch ihres Mannes ins Krankenhaus gefahren bin.
Mögen Sie Zensuren?, habe ich gefragt. Und allen Erwachsenen ist klar: Dafür gibt es keine Zensuren. Wenn es welche gäbe für Schweinebraten und Autofahren, wäre manchen gar nicht wohl.
Wenn ich mit Kindern oder Jugendlichen über Zensuren spreche, höre ich oft Ähnliches. Die mögen auch keine Zensuren! Aber sie müssen welche mögen. Ihr Leben wird in Noten eingeteilt zwischen eins und sechs mit allen Abstufungen, die erfunden wurden, um einen Unterschied zwischen „noch zwei minus“ und „gerade mal drei plus“ feststellen zu können. Noch schwieriger ist es ja mit den Zensuren in Fächern wie Zeichnen, Musik und Sport. Eine Schule ohne Zensuren – das wäre wie im Märchen, sagen die jungen Leute. Das gibt es nicht.
Aber seltsam: Wo in den Schulen Versuche stattfinden, ohne Zensuren auszukommen, findet sich bald Kritik. „Es lässt sich gar nicht feststellen, wie ich in den Fächern stehe.“ – „Es lohnt nicht, sich anzustrengen.“ Und bei den Kindern der ersten Klassen, die noch gar keine Zensuren bekommen, sind es oft gerade die Eltern, die ihre Kinder eingeordnet wissen wollen in das System von Noten. Müsste es sie dann nicht doch geben – die Zensuren für Schweinebraten und Autofahren? Ich mag keine Zensuren.
Die Bibel ist voll von Geschichten, wo Menschen „ohne Zensuren“ auskommen. Jesus hat sich immer wieder mit denen abgegeben, die von ihrer Umgebung „schlechte Noten“ bekamen. Ich wünsche allen Schulanfängern einen guten Start in eine aufregende und tolle Schulzeit, erstmal ohne Noten!
Pfarrer Johannes Heinze
Westhausen
Foto: Pixabay