Offener Brief an Ralf Eisenblätter: Das Gute, das Böse und die Wahrheit
Leserbrief. Leserzuschriften sind nicht mein bevorzugtes Medium, weil sie zuweilen Teil einer Erregungskultur sind, die ich für bedenklich halte. Es fehlen Sachlichkeit und Maß. Das gilt auch für Ihre Artikel („Informieren Sie sich selbst und vertrauen Sie nur Ihren eigenen Recherchen!“ vom 5. September 2020 und „Das Beste kommt zum Schluss!“ vom 17. September 2020 in der Südthüringer Rundschau). Aber nach der höchst einseitigen Berichterstattung in der „Südthüringer Rundschau“, sollte dort vielleicht auch einmal eine andere Sicht der Dinge Platz finden.
Grundsätzlich könnte Ihnen zu denken geben, dass Sie in einem Land, dem Sie zunehmenden Demokratieverrat und Diktatur vorwerfen, ganzseitig und mehrfach Ihre Meinung öffentlich kundtun können. Diese Meinung ist natürlich richtig, weil sie sich auf angeblich freie und wahrhaftige Quellen im Internet bezieht. Dort ist natürlich die Wahrheit zu finden, allerdings nur unter den Internetadressen, die Sie angeben. Da sollen wir jetzt also selbst recherchieren. Das ist aber keine Recherche, weil eine solche sich mit höchst unterschiedlichen Fakten und Sichten befasst und dann eben auch zu alternativen Sichten kommen kann.
Sie aber empfehlen ausschließlich Quellen, von denen Sie bestätigt werden. Wer Ihnen darin folgt, wird also zu Ihrer Meinung kommen. Und das soll er auch, nicht wahr? Ihr Text unterstellt, dass die, die es anders sehen, dumm und unfrei sind und sich freiwillig unterdrücken lassen. Das lässt sich an mehreren Stellen Ihrer Texte belegen.
Vielleicht hat ein Anderer aber einfach nur eine andere Sicht auf diese Dinge?
Sie bauen in Ihren Texten einen unerhörten Druck auf. „Zeigen Sie Mut zur Wahrheit!“, schreiben Sie und meinen damit Ihre Wahrheit, die Ihrer Mitstreiter und der natürlich „freien“ Internetmedien. Das Internet ist ein riesiges Sammelsurium angeblicher Wahrheiten. Sie können dort für jeden noch so abstrusen Gedanken „Belege“ finden.
Sie haben natürlich das Recht, die öffentlich-rechtlichen Medien kritisch zu sehen. Man kann zu ihnen stehen, wie man will. Aber der Vergleich mit „Aktueller Kamera“ und auch noch „Schwarzem Kanal“ ist unsachlich und ungerecht. Sie diffamieren damit übrigens die Menschen, die bei ZDF, ARD und den Dritten arbeiten. Sie würden solche Vergleiche nicht ziehen, wenn diese Medien Sie bestätigen würden. Aber das tun sie nun mal leider nicht. Dennoch waren die Berichte über die „Querdenken“-Demonstrationen in Berlin differenzierter, als von Ihnen beschrieben. Sowohl in der ARD als auch im ZDF wurden mehrere Demonstrationsteilnehmer interviewt und konnten ihre Meinung frei kundtun. Das wäre in der „Aktuellen Kamera“ schon deshalb unmöglich gewesen, weil Demonstrationen damals ebenso verboten waren wie freie Meinungsäußerungen.
Sie und Ihre Mitstreiter beschwören den Untergang der Demokratie und den Verlust der Freiheitsrechte, merken aber offensichtlich nicht mehr, dass sie genau dieses kostbare Gut nutzen. Manchmal ist ein Blick über den Tellerrand ganz hilfreich. In (zu) vielen Länder dieser Erde gibt es diese Rechte nicht. Wir leben in einem freien und demokratischen Land, dessen Freiheit und Demokratie von ganz anderem bedroht wird, als von Sicherheitsabständen und Mund- und Nasenschutz in der Öffentlichkeit.
Auffällig bei Ihnen ist die Polarisierung in Gut und Böse. Das ist natürlich einfach und schön, wenn man sagen kann, wer die Guten sind und wer die Bösen. Auch das ist eine Frage der Selbstbestätigung. Die Guten sind die, die die eigene Meinung teilen. Jede Meinung hat dann ihre „Säulenheiligen“ – bei Ihnen sind das die Damen und Herren (gern mit Doktor oder Professorentitel), die Schutzmaßnahmen als wirkungslos und freiheitsberaubend ansehen. (Man ist übrigens auch nicht schon deshalb glaubwürdig, weil man ein Kennedy-Enkel ist.)
Die Bösen, das ist der „Obersatan“ Bill Gates (Sie nennen ihn „Merkels neuen Heiland“) und natürlich die Bundeskanzlerin selbst nebst Herrn Spahn. Sie wollen ja, dass gleich die ganze (unfähige) Regierung zurücktritt. Und dann? Sie würden das natürlich besser machen, Herr Eisenblätter, nicht wahr? Wissen Sie noch, wie alles begonnen hat? Militärlastwagen voller Särge in Italien und Spanien, verzweifelte Ärzte in den dortigen Krankenhäusern, die Menschen nach Überlebenschancen „sortieren“ mussten. Haben Sie sich mal die Zeit genommen, Menschen zuzuhören, die diese Krankheit durchgemacht haben, die keinen eigenen Atem mehr hatten zum Leben?
Erzählen Sie denen mal, was Frau Lauterbach da ohne jede bittere Erfahrung von sich gegeben hat: „Corona ist lediglich eine leichte Grippe.“ Oder erzählen Sie das den Angehörigen derer, die diese „leichte Grippe“ nicht überlebt haben. Aber das waren ja „nur“ „Alte“ und „nur“ Vorerkrankte. Es gibt einige, die in Wut geraten, wenn sie die Bilder von Berlin sehen. Haben Sie (und Ihre Mitstreiter) auch mal an solche Menschen gedacht?
Als im März die Bilder aus Spanien und Italien über die Monitore liefen (auch im Internet), da waren 80 Prozent der Deutschen höchst einverstanden mit dem konsequenten Handeln der deutschen Regierung. Aber nun ist der Lockdown damals für einige natürlich schon wieder überflüssig gewesen. Es sind sicher Fehler gemacht worden und das ist auch jetzt nicht anders. Aber vielleicht sollten wir einfach einmal froh und dankbar sein für die kleinen Zahlen bei uns?
Und damit kommen wir zur entscheidenden Frage: Wenn es nun mal eine große Zahl an Menschen gibt, die geschützt werden wollen (eine Mehrheit, auch wenn Sie das nicht wahr haben wollen) – warum ist es dann zu viel verlangt, in bestimmten öffentlichen Räumen eine Maske zu tragen und etwas Abstand zu halten? Wenn Sie das für sich nicht brauchen – dann hilft es aber doch diesen Anderen, ohne dass sie dann gleich Angsthasen oder Duckmäuser sind! Wenn wir von den Anderen ausgehen und nicht von uns, dann werden wir doch wohl diese kleine Unannehmlichkeit auf uns nehmen können, denken Sie nicht? Sie aber machen daraus den Angriff eines korrupten Staates auf die Freiheitsrechte seiner Bürger. Über 60 Prozent dieser Bürger hätten es aber gern, dass man sich voreinander schützt. Die Maske und andere Maßnahmen haben für sie nichts mit Unterdrückung, sondern mit Rücksichtnahme zu tun.
Ich schließe nicht so, wie Sie es tun. Sie berufen sich am Ende Ihrer Artikel auf Ihr Recht zur freien Meinungsäußerung. Ja, das haben Sie, weil Sie in einer Demokratie leben und nicht in einer Diktatur.
Thomas Perlick
Römhild
Foto: Pixabay
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