Tübingens OB Boris Palmer: „Ohne Handel wären unsere Städte nicht wiederzuerkennen“
Tübingen/Berlin. Tübingens Oberbürgermeister Boris Palmer warnt in einem Brandbrief an Wirtschaftsminister Altmaier vor einer Verödung von Deutschlands Innenstädten durch den anhaltenden Lockdown. Längere Schließungen seien ein Risiko. Der Online-Handel werde dramatisch gestärkt, Kunden würden nachher nicht wiederkommen, manche Geschäfte würden nicht mehr öffnen. Dass andere nachkommen würden, bezweifelt Palmer in seinem Brief. Hinzu käme, dass die vom Bund versprochenen Hilfgelder bislang nicht angekommen seien. Er führt Beispiele aus Tübingen an:
Sehr geehrter Herr Minister Altmaier,
ich wende mich heute in großer Sorge um die Tübinger Altstadt an Sie. Diese war bisher von einem lebendigen Mix aus Wohnen, Kultur, Gastronomie, Gewerbe und Handel geprägt. Der Handel hat für die Nutzung der Erdgeschosse eine immens wichtige Bedeutung und stellt einen unverzichtbaren Anziehungspunkt für die Menschen dar, in der Stadt zusammenzukommen. Ohne Handel wären unsere Städte nicht wiederzuerkennen. Wie leer und öde es dann aussieht, ist derzeit unmittelbar spürbar, da die meisten Ladentüren geschlossen bleiben.
Ob diese Schließungen weiterhin erforderlich sind, ist strittig. Die Schweiz hat sich den ganzen Winter gegen das Verbot des Handels in den Städten entschieden. Lange Schließungen bergen das Risiko, dass der Trend zum Online-Handel dramatisch verstärkt wird und die Kunden nachher nicht wiederkommen.
Wenn man sich aber für die Schließungen entscheidet, dann müssen die Finanzhilfen so gestaltet sein, dass die Geschäfte überleben können. Das ist leider vielfach nicht der Fall. Die verspätete Auszahlung der Hilfen ist dabei ein Ärgernis, aber vermutlich für die meisten Betriebe auszuhalten. Richtig eng wird es allerdings für einige Branchen, die saisonale Waren anbieten, und für größere Mittelständler. Zwei solche Beispiele möchte ich Ihnen vortragen:
Der größte Tübinger Einzelhändler, die Firma Zinser, ist ein Mittelständler mit Modegeschäften in sieben Baden-Württembergischen Städten und einem Jahresumsatz von 87 Millionen Euro im Jahr 2019. Im laufenden Geschäftsjahr wird das Unternehmen wegen der Schließungen bis Ende Februar 35 Millionen Euro Umsatzverlust erleiden, also mehr als ein Drittel. Trotz Kurzarbeit und bereits erfolgtem Abbau von Arbeitsplätzen muss das Unternehmen weiterhin Fixkosten von knapp 40 Prozent bezahlen.
Die Winterware liegt nun unverkäuflich im Geschäft. Der Einkaufswert von 8 Millionen Euro ist verloren. Die Frühlingsware im Einkaufswert von 9 Millionen Euro ist geordert und muss bezahlt werden. Das führt zu einem Liquiditätsabfluss von 14 Millionen Euro. Setzt man den branchenüblichen Gewinn von 2 bis 3 Prozent auf den Umsatz an, so verliert Zinser durch die bisher geplanten Schließungen Geld im Volumen von zehn Jahresgewinnen. Es ist offenkundig, dass viele Mittelständler das nicht durchstehen werden und die ersten Insolvenzen stehen bereits in der Zeitung. Nach Einschätzung der Geschäftsführung von Zinser sind viele Betriebe in der Bekleidungsbranche in einer ähnlichen oder gar schlimmeren Situation, das Geld reiche noch für vier bis sechs Wochen.
Trotz dieser dramatischen Lage hat Zinser bisher nicht von staatlichen Hilfsprogrammen aus Ihrem Haus profitieren können. Ein wesentlicher Grund ist, dass Zinser Eigentümer der Immobilien ist und die Miete, die von der Handels- an die Besitzgesellschaft gezahlt wird, nicht angerechnet werden darf. Das ist eine massive Benachteiligung der an sich vernünftigen und soliden Praxis vieler Mittelständler, sich nicht den Immobilienhaien auszuliefern. Selbst wenn diese Hürde fallen würde, wäre die Deckelung auf einen monatlichen Hilfsbetrag von 500.000 Euro bei weitem zu niedrig. Zinsers Verluste sind sehr viel höher. Die Vorstellung, dass nur Kleinstbetriebe in wirtschaftliche Not geraten, ist romantisch und unzutreffend. Wenn die großen Textilhändler mit ihrer Anziehungskraft schließen, stirbt oft der ganze Innenstadthandel mit ihnen. Das darf nicht passieren.
Und leider gilt auch für die kleinen Boutiquen und Geschäfte: Die Hilfe kommt oft nicht an. Die Betreiberin des Style Affaire, eines wirklich originellen und erfolgreichen Modegeschäfts auf etwa 100 Quadratmetern in der Tübinger Altstadt schreibt mir, sie haben in diesem Winter keinen Cent Unterstützung erhalten und stehe nun angesichts des verlorenen Winterumsatzes und des vollen Warenlagers vor der Wahl, sich mit 100.000 Euro zu verschulden oder den Betrieb aufzugeben. Ohne wirksame Unterstützung sei die Aufgabe des Betriebs unvermeidlich.
Das wäre ein schmerzlicher Verlust und könnte dazu führen, dass im Sommer viele Läden nicht mehr öffnen können. Die Aussicht, dass andere nachkommen, sehe ich skeptisch. Solche Unternehmerpersönlichkeiten, die sich oft mit Haut und Haaren dem eignen Betrieb verschreiben, sind selten. Die traumatischen Erlebnisse der Pandemie werden nachwirken. Der Online-Handel ist ohnehin auf dem Vormarsch. Wenn wir jetzt große Lücken in das Angebot schlagen und Leerstände in den Einkaufsstraßen bekommen, wird es sehr schwer sein, diese wieder zu schließen, auch wenn die Pandemie unter Kontrolle ist.
Ich bitte Sie daher, folgende Änderungen der Überbrückungshilfe so schnell wie möglich zu veranlassen:
1) Streichung der monatlichen Zuschussgrenze von 500.000 Euro.
2) Deckungsgleichheit von Schließungszeitraum und Entschädigungszeitraum.
3) Gleichstellung der Mietzahlungen innerhalb verbundener Unternehmen (marktübliche Miete als Obergrenze zur Vermeidung von Missbrauch).
4) Berücksichtigung der Abschreibung auf das Warenlager für verderbliche / saisongebundene Ware bei den Fixkostenerstattungen.
5) Abschlagszahlungen bis zu 500.000 Euro mit der Möglichkeit zur sofortigen Auszahlung.Und selbstverständlich sollte die EU endlich den Widerstand aufgeben, Hilfen über vier Millionen Euro pro Betrieb zu gewähren. An dieser Stelle wünsche ich Ihnen Erfolg in Brüssel.
Sehr geehrter Herr Minister Altmaier, die Lage des Innenstadthandels ist bedrohlich, die finanziellen Hilfen kommen bisher nicht an und sie reichen bei weitem nicht aus. Ich bitte Sie dringend darum, die entsprechenden Finanzmittel freizugeben und die Programme an die Erfordernisse anzupassen.
Mir ist bewusst, dass die Belastung des Bundeshaushaltes dadurch erheblich ansteigen wird. Aber das ist dann der Preis der Schließungspolitik. Wir sollten nach der Pandemie nicht gezwungen sein, in die Schweiz zu fahren, um lebendige Innenstädte zu sehen. Wenn die Schließungspolitik fortgesetzt wird, dann ist der Bund in der Pflicht, den davon betroffenen Unternehmen mit einem gesunden Geschäftsmodell und einer großen Bedeutung für die Allgemeinheit das wirtschaftliche Überleben zu ermöglichen und die Verluste zu kompensieren.
Mit freundlichen Grüßen
Boris Palmer
Oberbürgermeister
Schreiben von Tübingens OB Boris Palmer an Bundesminister Altmaier >>>
Titelbild: Tübingens Oberbürgermeister Boris Palmer. Bild: Manfred Grohe