Nachruf für meine Mutter, unsere Heimbewohner und meinen systemrelevanten Beruf
Leserbrief. Vor einem Jahr legten wir das Geschenk zum 40. Geburtstag unserem Sohn vor die Haustür und gratulierten per Handy. Seitdem ist unser Alltag geprägt von Einschränkungen, sozialer Isolation und vielerlei Ängsten: Angst um die Stabilität unserer Wirtschaft, vor dem Abbau vieler Arbeitsplätze, vor sozialen und politischen Konflikten, vor der Verödung unserer Innenstädte, vor schulischen Defiziten unserer Enkel…
Die größten Probleme bereitete mir im Corona-Jahr mein Beruf als examinierte Altenpflegerin. Ein Jahr lang schon isolieren wir unsere Ältesten, um sie zu schützen. Wochenlang keine direkten Kontakte zu den Angehörigen – Personal und Angehörige in Schutzkleidung – sie fühlen sich wie in einem Klinikum, isoliert in ihren Zimmern. Dabei sollte ein Pflegeheim ihr letztes Zuhause sein.
Das, was ein Heim „heimelig“ macht: das gemeinsame Essen, Trinken, schwatzen, Singen, Kochen, Backen, Zeitungsschau, Gottesdienst, Kaffee trinken mit den Angehörigen, aber auch gute Pflege, inclusive Friseur und Fußpflege, haben sie viel zu lange vermisst. Orientierte und mobile Heimbewohner teilten uns ihre Ängste mit. Sie hatten weniger Angst vor dem Virus, aber litten sehr stark unter der Einsamkeit, verglichen die Situation mit Erlebnissen im Krieg. Sie wissen, dass sie in naher Zukunft sterben werden, haben sich mit dem Tod auseinandergesetzt, möchten aber nicht einsam sterben. Die Heimbewohner sind körperlich geschwächt durch weniger Mobilität und sind psychisch stark belastet: depressiv, aggressiv, traurig, verzweifelt, haben Schlafstörungen, in Absprache mit den Hausärzten wurde verstärkt Psychopharmaka verordnet.
Aber die großen Corona-Verlierer sind die Demenzkranken. In meiner Ausbildung nannte man den jetzigen Zustand „psychischen Hospitalismus“. Durch die Einsamkeit nehmen psychische Störungen zu: Interessenverlust, Gewichtsverlust, Apathie, Aggressivität…
Demenzkranke verstehen die Situation nicht, haben Angst vor unserer Schutzkleidung und unseren verdeckten Gesichtern, erkennen uns / ihre Angehörigen nicht mehr. Sie können sich nicht selbst ablenken von der schwierigen Situation durch lesen, rätseln, Musik hören, TV schauen und telefonieren. In einigen Heimen sollen Demenzkranke im Zimmer eingeschlossen worden sein, weil sie den Sinn der Quarantäne nicht verstehen und ständig Kontakt suchen.
Meine schlimmste Erfahrung mit einer Demenzkranken in Corona-Zeit war der Tod meiner Mutter. In der ersten Isolationsphase in ihrem Pflegeheim in Sachsen hielten wir Mutti mit lustigen Karten und Anrufen einigermaßen psychisch stabil. Im Sommer verbrachten wir viel Zeit mit ihr. In Vorahnung einer weiteren Corona-Welle, holte ich sie im Oktober für eine Woche nach Thüringen. Sie war eine fröhliche, kindliche Demenzkranke, die zwar unsere Namen nicht mehr wusste, aber spürte, dass die Enkel und Urenkel zu ihrer Familie gehörten.
Zwei Wochen später musste ihr Pflegeheim wieder schließen wegen einiger Corona-Fälle. Sie weinte am Telefon und war sehr durcheinander. Dann erhielt ich einige Anrufe, dass sie geschwächt war und mehrfach kollabierte, weil sie isoliert auf ihrem Zimmer weniger aß und trank. Sie erhielt Infusionen, ich sollte mir keine Sorgen machen, sagten die Bereitschaftsärzte, dann wurde sie positiv getestet, aber ohne Symptome.
Sie lehnte energisch das Essen und Trinken ab, entfernte die Infusionen. Wir durften in dieser schwierigen Phase nicht zu ihr. Erst eine Woche später erhielt ich eine Besuchserlaubnis. Ich saß in voller Schutzkleidung vor ihrem Bett und durfte mich eine Stunde verabschieden, Mutti war nicht mehr ansprechbar und weilte schon in einer anderen Welt. Meine Trauer vermischt sich mit Selbstvorwürfen, sie allein gelassen zu haben ohne Sterbebegleitung.
Ihre Hausärztin führte mit mir ein ehrliches Gespräch: Mutti ist nicht an Corona, sondern Einsamkeit gestorben, sie wollte so nicht mehr leben. Wie vielen Angehörigen wurde so in den letzten Monaten die Trauer erschwert?
Seit zwei Wochen bin ich Altersrentner und in meinem Heim läuft ein Hotspot ab, trotz Schutzkleidung, regelmäßiger Schnelltests, Vitalzeichenkontrolle und Quarantäne sind viele Mitarbeiter und vor allem Heimbewohner erkrankt. Einige schwerstpflegebedürftige Heimbewohner sind gestorben, aber auch mobile und orientierte sind von uns gegangen nach einer langen Phase der Isolation, das macht mich sehr traurig und nachdenklich.
Wir haben einen schönen Beruf, ich kenne viele motivierte und engagierte Altenpfleger und Krankenschwestern. Aber unsere Arbeitsbedingungen haben sich in den 20 Jahren seit meiner Ausbildung dramatisch verschlechtert. Anfangs war die schlechte Bezahlung alleinige Ursache für die hohe Fluktuation. Aber mittlerweile ist ein Faktor wesentlich für die fehlenden Pflegekräfte und den hohen Krankenstand: der Personalschlüssel. So lange in Deutschland mit Krankheit, Operationen und Pflege Geld verdient wird, sparen die Verantwortlichen an Personalkosten und diese andauernden Belastungen treten besonders in der Corona-Krise zu Tage. Die Berufszufriedenheit hat rapide abgenommen, Zeitmangel und Hektik bestimmen den Pflegealltag: Heimbewohner, Angehörige und Pflegepersonal leiden darunter.
In den letzten Jahren wurden verstärkt ausländische Pflegekräfte in der Pflege eingesetzt, sehr freundliche und fleißige Mitarbeiter, aber die wenigsten sind geblieben – zu hohe Arbeitsbelastung.
Als Mentor für ausländische Pflegekräfte durfte ich 2016 an einer Studienreise nach Aarhus in Dänemark teilnehmen. Heimleiter, Pflegedienstleiter und Pflegefachkräfte konnten sich in unserem Nachbarland überzeugen, wie ein bürgernahes Gesundheits- und Sozialwesen funktioniert. Wir erhielten in stationären und ambulanten Pflegeeinrichtungen viele ungewöhnliche Informationen: sehr komfortable Einzelzimmer, kleine Wohngruppen von maximal 10 Personen, traumhafte Personalschlüssel, Wunschdienste für junge Muttis, einen Personalpool in jeder Region (Studenten, Ruheständler aus sozialen- und Gesundheitsberufen, die kurzfristig für krankes Stammpersonal einspringen) gleiche Bezahlung von Altenpflegern und Krankenschwestern im ganzen Land, dadurch kaum Fluktuation, auf Wunsch Arbeit in Vollzeit (37 Stunden) im Rhythmus 5 Tage Arbeit und 2 Tage frei, wie die meisten Werktätigen. In jedem Heim wurde in einer eigenen Küche frisch und gesund gekocht – auch in der hochmodernen Berufsschule, die wir täglich besuchten.
Die staatliche Regulierung des Gesundheits- und Sozialwesens in Dänemark ermöglicht diese hohe Wertschätzung ihrer Ältesten in Wort und Tat.
Ich habe einen Traum: Mutige Politiker werten kompromisslos Vor- und Nachteile unserer Corona-Maßnahmen aus, schauen dabei auch über Landesgrenzen und starten Reformen für unsere Gesellschaft. Dann kann ich in Deutschland beruhigt alt werden.
Übrigens vermisse ich in allen Medien Informationen zur individuellen Stärkung des Immunsystems. Bereits 1886 empfahl uns Sebastian Kneipp seine 5 Wirkprinzipien: Hydro-, Phyto-, Bewegungs-, Ernährungs- und Ordnungstherapie zur Gesunderhaltung und Rehabilitation. So habe ich mich nach einer fast tödlich verlaufenden Virusinfektion (Lungen- und Rippenfellentzündung mit 28 Jahren) wieder ins Leben gekämpft. Nach vier Monaten Krankheit und Aufenthalt in einer Lungenklinik empfahl mir ein Internist mich abzuhärten und Sport zu treiben. Es hat funktioniert.
Diesen Brief sende ich auch an Frau Merkel, Herrn Steinmeier, Herrn Spahn, und Herrn Ramelow.
Ingrid Theilig
Römhild
Foto: Jeremy Wong on Unsplash
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