Wie Social Media die Gesellschaft kontrolliert und ruiniert
Leserbrief. Liebe Leserinnen und Leser, auch Sie haben wahrscheinlich gerade jemanden am anderen Ende des Tisches gegenübersitzen, der in sein Handy schaut. Das Handy – das wohl Lebenswichtigste der heutigen Gesellschaft. Wenn wir morgens aufstehen, ist es der erste Griff und abends im Bett oft der letzte.
Laut einer aktuellen Studie der Postbank stieg bei deutschen Jugendlichen die Online-Dauer auf 58 Stunden in der Woche. Das sind unglaubliche 8,3 Stunden täglich! Unglaublich? Zumindest für mich, und das obwohl ich zu eben dieser Generation zähle. Insgesamt verbringen die Deutschen im Durchschnitt 10,4 Stunden pro Tag an einem Bildschirm wie Smartphone, PC oder Fernseher! Bei dem Erwachsenen-Anteil kann man noch die Arbeit von ca. 8 Stunden täglich an einem PC als notwendigen Grund anführen.
Die älteren Leserinnen und Leser unter Ihnen mögen von diesen Fakten vielleicht überrascht oder gar geschockt sein, jedoch handelt es sich hierbei nur um Durchschnittswerte. Das heißt, und hier kenne ich persönlich mehrere, bei denen die reine Bildschirmzeit am Smartphone bei 12 bis 14 Stunden täglich liegt. Eine Zahl, bei der man sich zurecht fragt, ob man überhaupt wegen etwas anderem als des Smartphones aufsteht.
Nun kann man anbringen, dass die Nutzung des Handys an sich noch lange nicht negativ bewertet werden muss. Da gebe ich grundsätzlich recht. Allerdings wird die Gefahr der sozialen Netzwerke auf die Psyche und das Verhalten junger Erwachsener und Kinder deutlich unterschätzt. Die Verwendung bezieht sich im Wesentlichen auf Instagram, Snapchat, TikTok, YouTube und Telegram.
Mit Freunden Bilder und Videos teilen, neue Leute kennen lernen und lustige Clips ansehen. Das klingt unbeschwert und einfach. Dabei ist das Modell „Social Media“ von seinen Mitbegründern als gescheitert bewertet worden. Man wollte lediglich eine Plattform zum Informationsaustausch und der Wissensvermittlung schaffen, dabei schuf man einen rechtsfreien Raum, in dem sich Kriminelle organisieren, Verbrechen vertuscht werden, Pädophile leichtes Spiel haben und sexuelle Gewalt und Inhalte altersunabhängig frei zugänglich sind. Würde man im realen Leben die FSK-Beschränkungen wegfallen lassen? Würde man seine 9-jährigen Kinder Pornos schauen lassen? Genau das passiert, und zwar jeden Tag. Wir verschließen die Augen vor der bitteren Wahrheit. Eine Wahrheit, die nur Wissenschaftler, Psychologen und Social-Media-Experten aussprechen.
Ich habe den Eindruck, dass kaum einer begreift oder begreifen will, dass doch gerade die sozialen Netzwerke dazu beitragen, dass sich die Gesellschaft so entwickelt wie von fast allen kritisiert. Der Rückzug ins Private und der Egoismus unter den Menschen nimmt leider zu. Und das ist keine Überraschung, denn Social Media verstärkt gerade die schlechtesten Seiten von uns Menschen: Gier nach Anerkennung, der wohl wichtigste und folgenschwerste Punkt. Neid und Eifersucht über andere Personen bezüglich Aussehen, Stand, Beruf, Vermögen, Urlaub, Familie und (vermeintliches) Glück. Den anderen geht es besser und die haben es schöner als ich. Falsch! Virtuell werden nur die eigenen Erfolge, Erlebnisse und Glücksmomente geteilt.
Damit diese dann auch „geliked“ werden, werden sie bearbeitet, übertrieben positiv dargestellt oder gar erfunden. Und das alles nur, um wiederum Kommentare und Likes oder Herzen zu erhalten. Wir fühlen uns gut, denn wieder einmal haben wir der Sucht nach Anerkennung genüge getan. Die „Follower“ die geliked haben suchten ihrerseits nun ebenfalls nach neuen Alternativen und Möglichkeiten um diesem Gefühl nachzukommen. Das dadurch entstehende, sich selbst antreibende System kann nur noch mit einer Maßnahme gestoppt werden: Handy ausschalten oder App löschen!
Wir haben einen Algorithmus geschaffen, der uns wie Heroin berauscht und uns in einen Dauerglückszustand versetzen kann oder in den tiefsten Abgrund stößt. Der Miterfinder des Like-Buttons von Facebook, Justin Rosenstein, hat bereits 2017 ein Artikel mit dem Titel „Unser Bewusstsein kann fremdgesteuert werden“ veröffentlicht. Hier warnt er eindringlich vor seiner eigenen Erfindung und nennt Gründe, warum er diese sofort rückgängig machen würde. Der gehobene Daumen nimmt uns laut seiner Aussage in Besitz. Er beschreibt hier in einer umfangreichen und eindringlichen Warnung die Folgen der Internetsucht, die unsere Bevölkerung fest im Griff hat. Er selbst hat seine sozialen Netzwerke blockiert.
Nun kann man vielleicht wieder sagen: Naja, aber durch diese Vernetzung lernt man ja auch neue Leute kennen und unterhält sich mit Freunden – das ist doch gut. Damit unterliegt man jedoch einem klaren Denkfehler. Der Tagesspiegel berichtete im März von einer Studie, welche unter jungen Menschen in Deutschland durchgeführt wurde. Dabei gaben unfassbare 61 Prozent an, sich teilweise oder dauerhaft einsam zu fühlen! Dass dies ein unmittelbarer Beschleuniger für Depressionen und psychische Erkrankungen ist, gerade in der Pandemie, braucht hier nicht erklärt zu werden.
Stehen die soziale Aktivität und die Einsamkeit nicht im Widerspruch? Nein! Was als Freunde oder noch schlimmer Follower bezeichnet wird, sind keine Freunde im echten Leben. In der Realität braucht der Mensch Freunde, um Probleme zu besprechen, Sorgen zu erzählen und Ängste zu teilen. Das macht eine wahre Freundschaft aus. Da jedoch niemals in den sozialen Netzwerken von eigenen Sorgen oder Ängsten erzählt wird, erzeugt das Stress und letztendlich Einsamkeit.
Denn soziale Eingebundenheit und Aktivität misst sich nicht an der Zahl der Follower oder virtueller Bekanntschaften, sondern an der Qualität! So kommt man meist nur auf 0 bis 5 wahre Freundschaften im Leben. Und immer mehr junge Erwachsene leider nur noch auf 0 bis 1.
Die andauernde Datenflut, die jeder von uns freiwillig durch das Setzen eines „Likes“ preisgibt, führt uns in einen Prozess ein, in welchem die uns vorgeschlagene Werbung das geringste Problem ist. Unsere Meinung wird unbewusst von den sozialen Netzwerken beeinflusst. Zu Beginn jedenfalls „nur“ beeinflusst. Wer sich regelmäßig und seit mehreren Jahren auf diesen Plattformen aufhält wird nicht mehr beeinflusst. Er nimmt die Meinung des gezeigten Inhaltes an. Wer sich daraufhin immer weiter in die Meinungsspirale begibt, dem fällt es immer schwerer andere Meinungen zuzulassen. Gleichgesinnte Personen formieren sich zu Chatgruppen und betreiben regen Austausch, was das eigene Denken im Horizont der Menschen festigt und noch mehr beschränkt. Wissenschaftler sehen gerade hier eine der größten Gefahren für die Demokratie und die Meinungsfreiheit. Weil diese bedeutet nicht nur, dass ich meine Meinung sagen kann, sondern dass sie auch gehört wird und nicht von der Gegenmeinung niedergebrüllt wird!
Zum Abschluss nehmen Sie bitte folgendes aus meinem Leserbrief mit: Auch, wenn Sie Ihr digitales Nutzungsverhalten vermutlich nicht in Folge meines Artikels ändern werden, nehmen Sie die Warnung insbesondere für Ihre Kinder und Enkelkinder auf. Wenn alle nur noch in einem Zustand der Sucht leben, leben wir dann noch in einer lebenswerten Gesellschaft? Wir leben über das Smartphone in einer separaten digitalen Welt und haben längst vergessen, dass dies doch nur eine Plattform ist und kein zu Hause! Wir teilen jeden Schrott und liken jeden Post ohne einmal inne zu halten und sich selbstreflektierend nach der Sinnhaftigkeit des eben vergebenen Likes zu fragen.
„Denk ich an Deutschland in der Nacht, dann bin ich um den Schlaf gebracht“ – Heinrich Heine
Marc Schellenberger
Grimmelshausen
Foto: Rami Al-zayat on Unsplash
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