Die Dunkelgräfin zwischen Fiktion und Wirklichkeit – Ein irrationaler Erklärungsversuch – Teil 1/3
Entsprechend den Vereinbarungen des Basler Friedens 1795 wurde die Madame Royale (Prinzessin Marie Therese Charlotte von Bourbon), die Tochter des französischen Königspaares Ludwig XVI. und der Königin Marie Antoinette, aus der Haft entlassen und am 26.12.1795 in Basel an Österreich übergeben. Ob aber diese Dame wirklich in Wien angekommen ist, wurde schon wenige Jahre nach ihrem Tod bezweifelt. Wie aus verschiedenen Quellen zu entnehmen ist, wurden über die Echtheit der Prinzessin schon kurz nach ihrer Ankunft in Wien am Wiener Hof kritische Meinungen laut. Nicht wenige Leute meinten und meinen noch heute, dass die echte Prinzessin in Hildburghausen und Eishausen gelebt hat und auch hier gestorben sei. So entspann sich über die Jahrzehnte ein großes Rätsel, ein Mythos „Dunkelgräfin“, der bis heute besteht. Ein Mythos mag ja für eine Stadt wie Hildburghausen und seine Besucher sehr reizvoll sein. Der Fall Dunkelgräfin ist aber mehr. Er ist vermutlich ein Kriminalfall von besonderer Tragweite, wie er in der Geschichte sehr selten vorkam. Es soll im Verlaufe der Übergabeaktion nicht mit rechten Dingen zugegangen sein: die Prinzessin würde vor der Übergabe gegen ein anderes gleichaltriges Mädchen ausgetauscht. Diese Ersatzperson reiste als Madame Royale nach Wien und heiratete den Cousin, den Herzog von Angoulême. Die echte Prinzessin tauchte zunächst in der Schweiz unter.
Am 1.7.1799 übernahm der holländische Diplomat Leonardus Cornelius van der Valck vom offiziellen Geschäftsträger des Reichstages in Regensburg Theodor Bacher in Frankfurt am Main, wo sich seit 01. März 1799 sein Amtssitz befand, eine Dame zur Betreuung. Diese Dame nannte später 1852 der Romanautor Brachvogel „die Dunkelgräfin“. Nach Frankfurt hielten sich beide vorübergehend im Rheinland auf. In der Literatur trat die Dame mit ihrem Begleiter erst 1803 in Ingelfingen öffentlich in Erscheinung, als beide am 26.12.1795 in der Hofapotheke eine Wohnung bezogen. Nach mehreren Jahren unsteten Lebens fand das Paar 1810 in Hildburghausen und etwas später in Eishausen eine feste Bleibe.
Diese Unterschiebung (Substitution) soll neben einer offiziellen Übergabeaktion (Madame Royale gegen Gefangene) vollzogen worden sein – illegal, heimlich und ohne Protokoll. Beteiligte waren die Planer und Organisatoren der offiziellen Aktion, Beauftragte des französischen Direktoriums im Zusammenwirken mit einem oder mehreren Vertretern des bourbonischen Hochadels und der Duldung bzw. ja sogar Mitwirkung des Bundes der Freimaurer, denn fast alle Personen, die aktiven Einfluss auf das weitere Leben der Dunkelgräfin ausübten, waren Freimaurer.
Kurz gesagt, es ist vermutlich ein Rechtsbruch, ein Verbrechen. Will man den Fall aufklären, muss eindeutig festgestellt werden, wer die Dunkelgräfin war, welche politischen, wirtschaftlichen und auch persönlichen Interessen von wem verfolgt wurden. Wenn eine Identität zwischen der Dunkelgräfin und der Prinzessin nachgewiesen werden kann, muss diese vermutete Substitution stattgefunden haben.
Dieser Gedanke hat einige interessierte Hobbyhistoriker veranlasst, 2013 über den Mitteldeutschen Rundfunk eine Exhumierung der Dunkelgräfin, die auf dem Stadtberg bei Hildburghausen bestattet wurde, zu initiieren. Der MDR hat mittlerweile mehrere Filme zu diesem Thema produziert, wobei auch kostenaufwändige Recherchen notwendig waren. Aber alle Filme endeten mit einem anderen Ergebnis, sie brachten keine ernsthafte sachliche Lösung. Im ersten Film (2007, „Die vertauschte Prinzessin“, Regie H. M. Marten) soll der Dunkelgraf, ein Lüstling, mit einer Geliebten ein sorgenfreies Leben in Saus und Braus verbracht haben; im zweiten Film (2014, „Die Dunkelgräfin von Hildburghausen“, Regie U. Gebhardt) wurde eine DNA-Sequenz vorgestellt, die die Verwandtschaft der Dunkelgräfin mit der Marie Antoinette negierte und im dritten Film wird versucht, zwei einander ausschließende Fakten unter einen Hut zu bringen, nämlich diese 2014 offerierte DNA-Sequenz und die Annahme, die Prinzessin habe doch mit v. d. Valck bis an ihr Lebensende in Eishausen zusammen gelebt. Es ist ein Paradoxon, das nicht einfach zu lösen ist. Dieser letzte Kurzfilm „Neues von der Dunkelgräfin aus Hildburghausen“ (Regie U. Gebhardt) sendete der Mitteldeutsche Rundfunk am 11. Dezember 2018 im Abendprogramm.
„Können Sie sich vorstellen, dass es Leute gibt, die an einer Aufklärung des Rätsels um die Dunkelgräfin nicht interessiert sind und sie sogar verhindern möchten?“ fragte ein interessierter Bürger aus Hildburghausen. Diese Frage kann man nicht beantworten, weder mit JA noch mit NEIN. Als wir diesen letzten Film am 11.12.2018 gesehen hatten, fiel uns diese Frage wieder ein.
Die Story zusammengefasst geht so:
- Die Dunkelgräfin starb schon kurz nach ihrem Zusammenbruch im Oktober 1837, d. h. mehrere Wochen vor dem heute offiziell bekannten Sterbedatum 25.11.1837.
- Sie wurde heimlich bei Nacht und Nebel vom Dunkelgrafen (alias Vavel de Versay) auf dem Gelände um das Schloss verscharrt, möglicherweise in einem unterirdischen Gang.
- Der Dunkelgraf suchte dann nach einer verstorbenen Frau in der Region. Diese Frau fand er und lies sie an Stelle der Dunkelgräfin am 28.11.1837 auf dem Stadtberg bei Hildburghausen begraben. Von ihr soll die „nicht-alltägliche DNA-Sequenz“ stammen. Soweit diese These.
Dem steht die Tatsache entgegen: zwei Ärzte haben einen Tag nach dem Tode im Schloss die Leichenschau durchgeführt und vor der Beisetzung am 28.11.1837 auf dem Schulersberg wurde der Sarg noch einmal geöffnet. Es gibt in der Literatur nicht die geringsten Hinweise darüber, dass sowohl von den Ärzten als auch den Bediensteten, die sie kannten, Zweifel an der Identität der Dunkelgräfin bestand.
Im diesem Film (2018) wird die Meinung vertreten, der Totenaustausch sei eine bewusste Täuschung v. d. Valcks gegenüber der Öffentlichkeit, um sein Geheimnis zu bewahren.
V. d. Valck war ein hochintelligenter Sonderling. Er hatte durch Studium juristische und auch medizinische Kenntnisse erworben und sprach mehrere Sprachen (holländisch, französisch, deutsch). Wahrheit ist auch, er war ein Meister in der Geheimhaltung und Durchsetzung eines strengen Sicherheitsregimes. Aber täuschen im Sinne einer kriminellen Handlung nach unserem heutigen Rechtsverständnis kann man ihm bisher nicht nachweisen. Deshalb sollte man auch nicht geneigt sein, ihm eine solche zu unterstellen, auch wenn eine Täuschung zu einer Erklärung passt. Was hätte er mit dieser Täuschung – gegenüber wem – bezwecken wollen? Die Dunkelgräfin schwieg für ewig und geschwätzige Zeugen gab es nicht.
In diesem Film war die Rede von einer Isotopenanalyse, genauer gesagt Isotopenstrukturanalyse, die man zur Untersuchung der gefundenen Knochen und Zähne durchgeführt hatte.
Was wurde untersucht?
Die chemischen Elemente wie Sauerstoff, Kohlenstoff, Stickstoff, Strontium u. a. zirkulieren als Isotope im Kreislauf der Natur. Je nach der Region, in der sie leben, lagern Menschen und auch Tiere das chemische Element Strontium in unterschiedlichen Verhältnissen in Knochen und Zähnen ein. Während sich der Zahnschmelz eines Menschen nach dem 4. Lebensjahr nicht mehr verändert, bilden sich Knochen hingegen ein Leben lang neu. Nach jedem Milieuwechsel ändert sich die Struktur in den Knochen. An den Strontium-Isotopen-Verhältnissen der Zähne lässt sich also ausmachen, wo ein Mensch in seiner frühen Kindheit gelebt und auch wie an seinen Knochen (Dentin) lässt sich erkennen, wo er die letzten fünf bis zehn Jahre seines Lebens verbracht hat. Mit einem Massenspektrometer kann man die Zusammensetzung der Probeobjekte sehr genau bestimmen und für jedes organische Material einen sogenannten „isotopischen Fingerabdruck“ erhalten. Die Isotope werden in die Knochen und Zähne eingebaut und spiegeln dort die Isotopenstruktur, eine bestimmte chemische Signatur wider – z. B. die des Trinkwassers.
Mit einer Isotopenuntersuchung der Zahnes kann man differenzierte Feststellungen treffen:
a) im Zahnschmelz kann man die Kinder- und Jugendzeit ablesen
b) im Zahnbein (Dentin) die letzten 5 bis 10 Lebensjahre.
In mehreren Untersuchungen wurden die Isotopenstrukturen des Wassers aus Einhausen, einer Bodenprobe vom Schulersberg, des Oberschenkels – von ihm stammt das Probenmaterial für die DNA-Analyse 2014 – und eines Zahnes aus dem vorgefundenen Schädel miteinander verglichen.
Was wurde festgestellt:
- Der Schädel und der Probe-Oberschenkel stammen von der gleichen Person.
- Die Signaturen des Knochens und des Zahnbeines stimmen fast überein. d. h. die Person hat ihre letzten Lebensjahre in dieser Region verbracht.
- Die Signatur des Zahnschmelzes lässt eine Kinder- und Jugendzeit ebenfalls in dieser Region erkennen. Daraus zog man in diesem Film (2018) den Schluss: Wie es schon die DNA-Sequenz belegt, sei die Dunkelgräfin eine fremde Frau, nicht die französische Prinzessin. Und diese unbekannte Frau habe in dieser Region ihre Kindheit und Jugendzeit erlebt, hat auch hier lange Zeit gelebt und sei hier gestorben! Aber wie soll das gehen? Später kommen wir darauf zurück.
Es blieb noch eine Frage offen. Wenn nun eine andere Frau auf dem Schulersberg liegt, wo soll dann die Prinzessin abgeblieben sein? Auch sie konnte beantwortet werden. Ganz einfach. Man bestellte eine Hellseherin, die das Grab aufspüren soll. Bei einem Spaziergang über das Gelände blieb die Hellseherin an einer Stelle ca. 400 m ausserhalb des ehemaligen Schlossbereichs stehen und zeigte auf den Boden. Hier liegt sie, die Prinzessin in vier bis fünf Meter Tiefe – in diesem Film (2018) wurde angegeben: sechs bis sieben Meter! Die Hellseherin benutzte keinerlei technische Hilfsmittel, (z.B. Bodenradar, Echolot o. ä.). Wieso kann sie das behaupten? Sie berief sich mit großer Leidenschaft und Überzeugung auf ihre übersinnlichen Kräfte und folgte nur ihrer Intuition, die einer Lösung entsprach, wie sie der Auftraggeber erwartete. Und als später einige Fans versammelt waren, standen sie ehrfurchtsvoll drum herum und legten Blumen nieder, ohne die gesicherte Erkenntnis zu besitzen, dass tatsächlich die Tote da unten liegt. Einen Bagger hätte man beschaffen müssen, um zu graben. Vielleicht kommt das noch. Sollte man an dieser Stelle zufällig und wirklich auf sterbliche Überreste eines Menschen stoßen, werden sich vornehmlich die Kriminalpolizei und eventuell auch die Staatsanwaltschaft für diesen Fall interessieren.
Hans Georg Otto / Suhl
In Zusammenarbeit mit:
Roland Eyring, Eishausen
Bernd Nickel, Aachen
Dr. Wolfgang Otto, Greifswald
Titelbild: Das neue Grab der Dunkelgräfin auf dem Schulersberg. Foto: Privat