Bautzens Landrat Harig: Einrichtungsbezogene Impfpflicht sollte verschoben oder komplett aufgehoben werden
Bautzener Landrat Harig schreibt Offenen Brief an Ministerpräsident Kretschmer – Bautzener Vize-Landrat kündigt auf Montagsdemo Kurswechsel an
Bautzen. Die einrichtungsbezogene Impfpflicht sollte nach Auffassung von Bautzens Landrat Michael Harig verschoben oder komplett aufgehoben werden. „Gesetzliche Regelungen sollten nur dann getroffen werden, wenn deren Umsetzung machbar und damit verbundene Ziele erreichbar sind. Beides ist nicht gegeben“, so Harig.
In einem Schreiben an Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer bat der Landrat darum, sich auf Bundesebene für eine entsprechende Änderung einzusetzen. „Dies ist notwendig, um die Landkreise und Gesundheitsämter vor Ort vor einer Zwangssituation zu bewahren, in der die Impfpflicht durch die Macht des Faktischen unterlaufen wird, unterlaufen werden muss.“
Mit der Bitte solle aber die Wirksamkeit der Impfung als Instrument der Pandemiebekämpfung nicht in Zweifel gezogen werden. „Die Überlastung des Gesundheitssystems und eine Verhinderung weiterer Einschränkungen muss oberstes Ziel bleiben“, so Harig.
Die Gesundheitsämter müssten jedoch bei der Umsetzung der Impfpflicht Rücksicht auf die Versorgungssicherheit der zu pflegenden und zu betreuenden Mitmenschen nehmen. In der ohnehin bestehenden angespannten Lage – bezogen auf die Verfügbarkeit von Fachkräften in der Pflege, sei selbst ein Verlust von rund 10 Prozent der tätigen Personen nicht zu kompensieren.
In diesem Zusammenhang kritisierte der Landrat zudem die Verkürzung des Genesenenstatus auf drei Monate durch das RKI. „Es ist davon auszugehen, dass sich die Situation durch die unvermittelte Kürzung des Genesenenstatus noch einmal verschärfen wird.“ Lesen Sie hier das Schreiben im Wortlaut:
Einrichtungsbezogene Impfpflicht, Genesenenstatus
Sehr geehrter Herr Ministerpräsident Kretschmer, lieber Michael,
gestatten Sie mir, bezüglich der vorgenannten Themen nochmals meine große Sorge auszudrücken. In diesem Zusammenhang bitte ich Lösungsvorschläge zu prüfen, welche das Ziel verfolgen, die Pandemie zu bewältigen und den sozialen Zusammenhalt zu befördern.
Eine konsequente Umsetzung der einrichtungsbezogenen Impfpflicht wird erkennbar zu größeren Problemen in der Versorgung und Betreuung hilfsbedürftiger Menschen führen. Es ist zusätzlich davon auszugehen, dass sich die Situation durch die unvermittelte Kürzung des Genesenenstatus noch einmal verschärfen wird.
Protestnoten und symbolisch zurückgegebene Ausbildungszeugnisse gehen täglich bei uns ein. Von Ärzten wird berichtet, dass die relativ wenigen, welche derzeit eine Erst- oder Zweitimpfung vornehmen lassen zunehmend gereizt reagieren und das Vertrauen in unser System verlieren. Andere suchen den Weg der gezielten Infektion, wohlwissend, dass mit der Omikron- Variante in der Regel milde Verläufe zu erwarten sind.
Letztlich ist die Abschaffung der noch nicht umgesetzten einrichtungsbezogenen Impfpflicht in Tschechien für viele Betroffene ein Zeichen, dass auch ein anderes politisches Agieren beim Vorliegen neuer Erkenntnisse möglich ist. Selbst die Einführung der allgemeinen Impfpflicht in Österreich wird – sofern durchsetzbar- ohne zusätzliche Kontrollen und Bußgelder auskommen.
Die letztgenannten Beispiele machen die immer schwierigeren Erklärungsmuster deutlich. Noch vor wenigen Wochen wurden die hohen lnzidenzen in Sachsen als Spiegelbild der niedrigen Impfquote verstanden und propagiert. Heute sind die lnzidenzen dort am höchsten, wo die Bevölkerung nahezu durchgeimpft ist. Omikron unterscheidet offenbar nicht zwischen einem jeweiligen Impfstatus. Das Ziel einer Impfpflicht in Form des Schutzes vulnerabler Gruppen ist auch deshalb nicht erreichbar.
Die Situation in Sachsen ist wie sie ist. Die Impfquote ist eine im Bundesmaßstab niedrige. Eine einrichtungsbezogene Impfpflicht ist demnach nicht ohne Probleme durchsetzbar.
Die Gesundheitsämter werden Rücksicht auf die Versorgungssicherheit der zu pflegenden und zu betreuenden Mitmenschen nehmen müssen. In der ohnehin bestehenden angespannten Lage – bezogen auf die Verfügbarkeit von Fachkräften in der Pflege, ist selbst ein Verlust von „nur“ 10 Prozent der tätigen Personen nicht zu kompensieren.
Unabhängig davon sollten gesetzliche Regelungen nur dann getroffen werden, wenn deren Umsetzung machbar und damit verbundene Ziele erreichbar sind. Beides ist nicht gegeben.
Daher meine Bitte, sich gegenüber dem Bund für eine Verschiebung oder Aufhebung der einrichtungsbezogenen Impfpflicht einzusetzen. Dies ist notwendig, um die Landkreise bzw. Gesundheitsämter vor Ort vor einer Zwangssituation zu bewahren, in der die Impflicht durch die Macht des Faktischen unterlaufen wird, unterlaufen werden muss.
Unabhängig der von mir gemachten Ausführungen soll kein Zweifel an einem optimalen Impfgeschehen als Instrument der Pandemiebekämpfung aufkommen. Die Überlastung des Gesundheitssystems und eine Verhinderung weiterer Einschränkungen muss oberstes Ziel bleiben.
Sehr geehrter Herr Ministerpräsident,
die gegenwärtige gesellschaftliche Situation muss auch Anlass zur Analyse und Selbstkritik auf allen Ebenen sein. So wäre meines Erachtens manches Missverständnis vermeidbar, welches in der Öffentlichkeit und auf der Straße ausgetragen wird.
Als Beispiel möchte ich die Verkürzung des Genesenenstatus auf drei Monate anführen. Während der Bundesgesundheitsminister darüber sinniert, ähnlich der Schweiz, den Genesenenstatus in Verbindung mit Antikörpertests zu verlängern, wird auf Empfehlung des RKI eine Verkürzung veranlasst. In der Öffentlichkeit wird dies mit Willkür übersetzt, zumal die Wissenschaft sich darüber einig ist, dass eine natürliche Immunität aufgrund der breiteren Immunantwort günstiger ist als eine durch Impfung herbeigeführte.
Als örtliche Behörden sind wir kaum noch in der Lage, solches unseren Bürgern zu erklären. Regeln gelten EU-weit, national oder auf Landesebene unterschiedlich. Bekannt gemachte Regelungen werden erst mit Verzögerung rechtlich umgesetzt und schnelle Änderungen können teils erst Wochen später durch entsprechende Updates der Applnfrastruktur faktisch umgesetzt werden. All dies ist freilich kein neuer Umstand. Die in Rede stehende Verkürzung des Genesenenstatus stellt jedoch einen bisherigen Höhepunkt der Unverständlichkeit dar.
Um eine gesichtswahrende und gleichzeitig medizinisch sinnvolle Regelung zu finden, sollte hier auf das bereits erwähnte Schweizer Modell umgestiegen werden. Zwar gilt auch dort generell eine dreimonatige Dauer des Genesenenstatus, welcher jedoch per Antikörpernachweis bis zu einem Jahr verlängert werden kann. Ähnliches gilt für die Veränderungen der Gültigkeit der Impfungen und Diskussionen, um ein wiederholtes Boostern im Gegensatz zu den Erfahrungen in anderen Ländern.
Sehr geehrter Herr Ministerpräsident,
die Mitwirkung der Gesellschaft ist für die Bekämpfung der Pandemie unabdingbar. Versammelten sich Ende 2021 insbesondere „spinnerte“ Gruppierungen und Dauerunzufriedene bei den montäglichen Anti-Corona-Demonstrationen werden durch die beschriebenen Kommunikations- und Entscheidungsprobleme immer neue Bevölkerungsteile zur Teilnahme regelrecht ermuntert.
Wir beobachten die Versammlungen genau und müssen feststellen, dass ein deutlicher Zuwachs der Zahlen vor allem auf die Teilnahme von medizinischem und pflegenden Personal zurückzuführen ist. Dass am heutigen Montag auch zunehmend Genesene und Menschen mit einer Janssen-lmpfung teilnehmen werden, ist absehbar. Mit der Diskussion um eine allgemeine Impfpflicht wird es auch weitere Teile der Grundimmunisierten zu den Demonstrationen ziehen. Beispielhaft hat auch der designierte CDU-OB-Kandidat für die Stadt Bautzen sich als Redner auf der Montagsversammlung präsentiert und gegen eine Impfpflicht ausgesprochen.
Die Wissenschaft kommt zunehmend zur Erkenntnis, dass der Wandel von der Pandemie zur Endemie kurz bevorsteht. Weitere Impfstoffe und Medikamente stehen in Kürze zur Verfügung. Es besteht mithin kein Grund, die Spannungen in der Gesellschaft durch Impfpflichten u.ä. weiter anzuheizen.
Die Entwicklungen in der Welt, die gemachten Erfahrungen mit den gegenwärtigen Mutationen und ein Vertrauen auf ein eigenverantwortliches Handeln der Menschen sollten ausreichende Gründe dafür liefern, die Diskussion gesichtswahrend in eine andere Richtung zu lenken.
Mit freundlichen Grüßen
Michael Harig
Landrat
Vize-Landrat Udo Witschas hat auf der wöchentlichen Montagsdemo in Bautzen erklärt, dass der Landkreis Bautzen keine Betretungsverbote und keine Bußgelder gegen ungeimpfte Pflegekräfte und medizinisches Personal verhängen wird.
Foto: Markus Winkler on Unsplash