Zur Amtsblatt-Affäre
Leserbrief. Die älteren Leser werden mir bescheinigen, dass ich nicht der Nähe zu Nazi-Verharmlosern verdächtig bin. Ich habe Veranstaltungen für das Gedenken an die Weiße Rose organisiert und gestaltet und zehn Jahre sehr aktiv in der Hildburghausener Friedensinitiative gegen unsere Kriegswirtschaft und für die Demokratisierung unseres Landes gestritten.
Aus dem Altenteil heraus melde ich mich nun auch zu dem Fall, weil meine Gesinnungsgenossen wohl auch müde geworden sind. Aufgepasst: Ich beteilige mich nicht am Obst-Bashing, sondern wende mich gegen dieses Getue. Mit den meisten geäußerten Einschätzungen und Argumenten stimme ich überein, aber ich misstraue dem Shitstorm trotzdem. Sind es diejenigen, die am meisten unter der Politik des Bürgermeisters gelitten haben? Sind es die, die sich an den bisherigen, und durchaus bedeutenderen politischen Skandalen der letzten Jahre entsetzten? Wer beteiligt sich denn an der Steinigung unseres vergleichsweise harmlosen Kommunalpolitikers?
Viele Namen sind mir verdächtig. Bodo Ramelow, nicht gerade als konsequenter Friedenspolitiker bekannt – benutzt er den Fall, um sich von seinem rechten Linksparteiflügel aus gegen die CDU zu profilieren? Denn zur Verbreitung der geäußerten Meinung ist er wahrlich nicht nötig. Sie weicht nicht vom Mainstream ab. Gleiches gilt für einige lokale Leserbriefschreiber, von denen man lange keine politische Äußerung vernommen hat und deren Namen ich hier nicht aufzählen muss. Muss da vielleicht hier ein verblasster linksanarchistischer Ruf aufpoliert und dort eine neudemokratische Umerziehung bestätigt werden?
Wer sich für die Umstände, unter denen es zum Eklat kam, interessiert, wird seine Empörung in den Griff bekommen. Er wird zunächst feststellen, dass in dem Amtsblättchen, in dem der beanstandete Beitrag erschien, regelmäßig unkommentierte Zitate aus historischen Veröffentlichungen erscheinen. Deshalb wird Herr Obst nicht auf den Gedanken gekommen sein, dass man ihm die Meinung des Autoren unterstellt. Er verfügt nicht über einen Stab von gewieften Pressereferenten und Redenschreibern wie etwa unsere Kanzlerin und Waffenhändlerin, die trotz ihres Doktortitels diesen Aufwand auf unsere Kosten treiben muss.
Er ist kein Intellektueller, sondern nicht mehr und nicht weniger als der Bürgermeister einer Kleinstadt. Er ist auch nicht in der Lage, zu seiner Verteidigung zum Angriff überzugehen wie so viele große Politiker unserer rechtspopulistischen Zeit. Er hat auch nicht die Dreistigkeit eines Helmut Kohl, der die Verantwortung für seine politischen Taten auf seinen Unterschriften-Automaten übertragen durfte, und kann keine Strohmänner bezahlen, die behaupten, alles sei ohne Wissen ihres Chefs geschehen.
Herr Obst hat nun wirklich nicht die Kampfeslust eines Herren Sarrazin, der politisch unkorrekte Meinungen herauszuschreien liebt.
Liebe Leser, verwendet eure Energie auf die Möglichkeiten, euren politischen Willen durchzusetzen, und die bestehen zum Beispiel in zivilem Ungehorsam, der die Verwaltungen demokratisieren könnte, und in Konsumverzicht, der unsere Selbstverantwortung stärkt und auf den sich die wirtschaftlichen Drahtzieher der Politik einstellen müssen und im mutigen Eintreten für diskriminierte Mitbürger im regionalen Umfeld. Denn das ist der Ursprung aller Politik.
Thomas Geisler
Römhild
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