Alte Heimat St. Pauli
Als ich im März 1996 nach Hamburg gezogen bin, tat ich mich dort zunächst schwer. Ausgestattet mit einem Münchner Lokalpatriotismus, der die bayerische Landeshauptstadt zur geilsten und abgefahrensten Metropole der Welt verklärte… stand ich dann plötzlich vor der Roten Flora oder am Hans-Albers-Denkmal und kam aus dem Staunen nicht mehr heraus, was überhaupt alles möglich ist, auf Gottes schönem Erdball.
Am Anfang hat mich der Kiez zwischen Sternschanze und Hafenstraße ziemlich eingeschüchtert. Ich traute mich kaum hin. Irgendwann wohnte ich dann in der Simon-von-Utrechtstraße 91. Simon von Utrecht ist derjenige, der seinerzeit den guten Klaus Störtebeker zur Strecke gebracht hat. Die nach ihm benannte Straße ist die zweite Parallelstraße zur Reeperbahn. Ich wohnte also mittendrin.
St. Pauli wurde mir eine gute Heimat. Sind die Menschen im Norden in der Tat oft distanziert, hat St. Pauli an guten Tagen das Flair einer italienischen Kleinstadt. Sobald alle merken, dass Du nicht nur des Abends mit den übrigen Massen zum Feiern hereinbrichst, sondern dass Du hier wohnst, gehörst Du dazu. Alle, die im Kiez wohnen, gehören dazu und gehören zusammen.
Ich lernte das ganze Sammelsurium der Kiezbewohner kennen. Die Türsteher, die Dealer, die Obdachlosen, die Kurden und Asiaten, Varietékünstler, Stricher, Huren, Sänger, Studenten, Gossenphilosophen, Tresenhocker, Streetworker und Lebenskünstler. Das Haus gegenüber war voll besetzt mit südamerikanischen Transen.
Nur Seeleute trifft man nicht mehr auf St. Pauli. Seit die Containerschiffe dank moderner Technik in Windeseile entladen sind, ist das Leben als Seemann seiner Romantik beraubt. In den Hafenstädten von Rotterdam bis Sao Paulo ist die entscheidende Quelle der früheren Verruchtheit versiegt.
Als ich jetzt zurückkam, befürchtete ich demgemäß das Schlimmste. Dieses Schlimmste wäre die Berliner oder Münchner Entwicklung gewesen. Die ganzen alten Läden zu, alles schick und rausgeputzt und sauteuer – und ein spießiges, bionade-saufendes, grüngroßdeutsches Spießertum am Start.
Ich wurde, zum Glück, enttäuscht. Natürlich haben sich die alten St.-Paulianer in meiner früheren Stammkneipe „Toom Peerstall“ trotzdem bitterlich beschwert: dass das heutzutage alles mit St. Pauli rein gar nichts mehr zu tun habe. Auch sind die Mieten nach oben geschossen, Immobilienkonzerne haben ein paar neue Appartementhäuser hochgezogen und sowieso war früher alles besser.
Ich dagegen war erfreut und erleichtert. Alles war noch da. Rosis Bar, der Sorgenbrecher, der Blaue Peter, das Roschinsky, die Kleine und die Große Freiheit, der Hot-Dog-Stand sowie in der Talstraße: der Deniz Imbiss, die Wunderbar, der kleine Gitarrenladen und, zwischen Porno-Kino, Sexshop und Fixerstube: das altehrwürdige Haus der Heilsarmee.
So ist, fand ich, das allermeiste doch beim Alten geblieben auf St. Pauli. Und ist es nicht schön, wenn man mal irgendwohin zurückkommt und die Dauerturbulenzen des globalen Turbokapitalismus haben nicht alles über den Haufen geschmissen?
Ich bin eben durch und durch ein Konservativer. Na, aber sicher doch! Lateinisch „konservare“ heißt schließlich „bewahren“. Und auch wenn es um „Tradition“ und „alte Werte“ geht, gibt es wohl kaum etwas bewahrenswerteres als meine alte Heimat: St. Pauli an der Elbe.
Prinz Chaos II.
Weitersroda
Foto: Pixabay
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Dirk C. Fleck (ausgezeichnet mit dem Deutschen Science-Fiction-Preis 1994 und 2008)
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