Die Dunkelgräfin zwischen Fiktion und Wirklichkeit – Die Alternative: Bemühen um historische Wahrheit – Teil 2/3
Näher an der Wirklichkeit ist eine andere Auffassung. Halten wir uns an die harten Fakten. Der vorletzte Film „Die Dunkelgräfin von Hildburghausen“, der am 28. Juli 2014 gesendet wurde, enthält eine sehr interessante Passage. Die Anthropologin Frau Prof. Dr. Wittwer-Backofen von der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, die die Exhumierung leitete, legt darin eine ganz heiße Spur. Sie untersuchte einen gesunden Backenzahn, der offenbar nicht aus dem vorgefunden Schädel stammen konnte, auf sein Alter. Dabei machte sie als Zufall einen sehr interessanten und wichtigen Nebenbefund. Etwa ab der 20. Minute heißt es im Film wörtlich:
„Der Querschnitt der Zahnwurzel zeigt Ringe wie die Jahresringe eines Baumes. Das Alter lässt sich so feststellen. Aber auch Mängel, Krankheiten und erheblicher Stress werden sichtbar. Wir sehen einige gut dokumentierte Stressmarken, die sich auf ein Alter zwischen 14 und 16 Jahren begrenzen lassen. Das könnte darauf hindeuten, dass es sich um Madame Royale in diesem Alter mit den entsprechenden Belastungen in diesem Altersbereich handeln könnte.“
Diese heiße Spur wurde im Film nicht verfolgt. Wäre man dieser Spur gefolgt, hätte die Frage „Wer war die Dunkelgräfin“ anders beantwortet werden können.
So formulierte die Anthropologin: „ …einige gut dokumentierte Stressmarken…“.
Was sind Stressmarken oder Stressmarker und wie entstehen sie? Die menschlichen Zähne bilden sich bis etwa zum 24. Lebensjahr aus. Ihr Wachstum wird u. a. durch die Lebensweise, das Ernährungsverhalten und auch durch Umwelteinflüsse bestimmt. Abnormitäten in der Lebensweise werden in der Zahnstruktur sichtbar und in besonders extremen Fällen, während prekärer Lebensphasen, bilden sich diese Stressmarker aus. Besondere Bedeutung kommt dabei der Ernährung zu. Hunger, Mangelernährung, schwere Krankheiten und andere extreme Lebenssituationen über längere Zeit sind unweigerlich mit psychischen und physischen Belastungen verbunden, die Stressmarker bedingen. Seit Menschengedenken litten und leiden immer Menschen an Hunger und Not, vor allem in den unteren, den proletarischen Gesellschaftsschichten, vor allem Tagelöhner, ungelernte Beschäftigte und deren Familien und vor allem Familien mit vielen Kindern. In Kriegs- und Nachkriegszeiten sowie nach Erntekatastrophen erfasste die Not auch andere gesellschaftliche Kreise.
Die Dunkelgräfin stammte wohlweislich nicht aus den unteren Gesellschaftsschichten, sondern den Belegen nach aus der gehobenen Gesellschaft. In der Literatur gibt es einige sehr ernst zu nehmende Hinweise, dass man davon ausgehen kann, dass sie sogar aus dem Hochadel stammen könnte. V. d. Valck, der Dunkelgraf, behandelte sie wie eine erlesene, edle Dame aus dem höchsten Stand, mit voller Ehrerbietung und Höflichkeit. Er war für sie zugleich Bodyguard, Diener und Manager. Beide lebten mit ihrem kleinen „Hofstaat“ im Luxus weit über dem Lebensstandard des wohlhabenden Hildburghäuser Bürgertums. Edle Nahrungsmittel, wie Wein, bezog v. d. Valck aus Paris, ebenso fast die gesamte Garderobe der Dame, ja sogar Möbel, aber wieso aus Paris und nicht aus Österreich oder Holland, von wo er stammte? Van der Valck kannte sich aus in Paris, denn er lebte längere Zeit dort. Er ließ sich möglicherweise von den ehemaligen Hoflieferanten versorgen. Dieses großzügige Leben und seine umfangreiche Wohltätigkeit verdankte er einer sehr großen Erbschaft aus Holland, denn v. d. Valck war Millionär. Geld floss wahrscheinlich auch aus anderen finanziellen Quellen, die noch nicht umfassend erschlossen sind. Bekannt ist eine persönliche Geldübergabe des Theobald Bacher am 26. Dezember 1795 an Johann Philipp Schar, den ersten Begleiter der Prinzessin, in Höhe von 20.000 Livres. Dieses Geld kam nicht aus einer privaten Stiftung, sondern aus bzw. im Auftrag des Direktoriums oder von den Freimaurern. Es konnte nur für die Versorgung der Prinzessin in den nächsten Wochen nach der Substitution gedacht sein. Eine besondere Rolle könnte in diesem Zusammenhang die italienische Banka Monte dei Paschi di Siena gespielt haben, die schon 1472 gegründet wurde und seit dem 17. Jahrhundert in deutschen Ländern existierte. Auf diesem Weg konnte Geld, das nicht aus Holland kam, leicht verschleiert werden.
Wie v. d. Valck die Dame ansprach, wissen wir nicht, aber wie sie ihn angesprochen hatte schon. Zu seinem 39. Geburtstag am 22. September 1808 schrieb sie ihm einen Brief, den so genannten „Geburtstagsbrief“. Dieser Brief ist in gebrochenem Deutsch geschrieben. Das ist ein deutliches Zeichen, dass sie die deutsche Sprache nicht gut beherrschte, eine Ausländerin war. Nach dem Tod der Dunkelgräfin hat v. d. Valck einen anderen sehr interessanten Brief an die Friederike Kühner, die Witwe des Pfarrers Heinrich Kühner, gesandt. Darin schrieb er über seine Gefährtin: “…Sie sprach sehr gut französisch…“. Daraus kann man schließen, dass sie französisch in ihrer Kindheit gelernt hatte, also ihre Muttersprache war und sie die deutsche Sprache erst später lernen musste. Das heisst, sie konnte nicht in der Region um Hildburghausen aufgewachsen sein, sonst hätte sie besser deutsch gesprochen. Andererseits ist es undenkbar, dass sie als Hildburghäuser oder Eishäuser Kind ausschliesslich mit der französischen Sprache aufgezogen wurde.
Die Kommunikation zwischen Dunkelgraf und Dunkelgräfin wurde wahrscheinlich hauptsächlich in französisch geführt, aber auch in deutsch, wobei die Dunkelgräfin die deutsche Sprache dabei lernte. Wenn im letzten Film erwähnt wurde, dass in diesem Brief holländische Sprachnuancen zu erkennen sind, dann kann das nur bedeuten, dass die Dunkelgräfin im täglichen Sprachgebrauch mit ihrem aus Holland stammenden Partner sich diese von ihm angeeignet hatte. Um zu dieser Erkenntnis zu gelangen, musste man nicht die sprachwissenschaftlichen Institute von vier Universitäten um Gutachten bemühen.
Im diesem Film wurden diese Nuancen als „holländische Elemente“ bezeichnet und als Hinweis auf eine eventuelle Herkunft der Dunkelgräfin aus Holland interpretiert. Bei dieser formalen Einschätzung wurden die besonderen Lebensumstände des Dunkelgrafenpaares nicht berücksichtigt.
So ganz nebenbei befindet sich in dem Geburtstagsbrief eine besondere Auffälligkeit. Die Dunkelgräfin spricht v. d. Valck mehrmals mit „lieber LUDWIG“ an. Ludwig Charles hieß ihr Bruder, von dem sie im Temple brutal und für immer getrennt wurde. Diese Form der Anrede kann bedeuten, dass sie in ihrem Partner ihren Bruder sah, der so wohlwollend und liebevoll für sie sorgte. Anders gesagt, es kann ein bezeichnendes Licht auf ihren psychischen bzw. geistigen Zustand werfen.
Am Ende des Briefes nennt die Dunkelgräfin auch ihren Namen: Sophie. Woher kommt dieser Name? In der letzten Dezemberwoche des Jahres 1795 wurde die Madame Royale auf die Reise über Hüningen und Basel nach Österreich geschickt. Für die Reisegesellschaft hatte der französische Innenminister Bénzéch Reisepässe ausstellen lassen – allerdings mit anderen, falschen Namen, um die Aktion geheim zu halten. Die Reisebegleiter, der Gendarmerie-Kapitän Mechain und die Hofdame Madame de Soucy galten als Ehepaar und Eltern der Prinzessin. Der Reisepass der Prinzessin war somit auf den Namen „Sophie Mechain“ ausgestellt. Es waren echte Reisepapiere mit denen man inkognito und problemlos durch Frankreich und in die Schweiz reisen konnte. Für die deutschen Länder wurden andere Pässe benötigt. Das war kein Problem. Für Neuausstellungen von Pässen und Gültigkeitsverlängerungen war der an der Schweizer Botschaft tätige Bevollmächtigte Theobald Bacher zuständig. Es war der gleiche französische Diplomat Bacher, der die Übergabe der Prinzessin (und die Unterschiebung der Ersatzperson) in Basel und die Übergabe der unbekannten Dame an v. d. Valck in Frankfurt am Main 1799 organisiert hatte. Dass Bacher Pässe des v. d. Valck verlängert hat, ist durch mehrere Datumsangaben belegt. So ist es denkbar, dass Bacher auch Pässe für die Dunkelgräfin ausgestellt und verlängert hatte. Damit war die Prinzessin an allen Grenzübergängen zwischen den deutschen Ländern bestens legitimiert, was v. d. Valck in seinem Sicherheits- und Geheimhaltungsbestreben nutzte. So wurde der Name Sophie über die Jahre von Pass zu Pass übernommen und bis nach Hildburghausen und Eishausen weitergeführt, ja bis zu ihrem Tode beibehalten. Gegenüber den Behörden und für das Kirchenbuch Eishausen gab der Dunkelgraf nach ihrem Tode an: „Sophie Botta aus Westfalen“ – was natürlich nicht der Wahrheit entsprach. Den Namen Botta dürfte v. d. Valck wohl erdacht haben. Den Familiennamen Mechain hatte er verschwiegen, weil er sonst gegen sein eigenes Prinzip der Geheimhaltung verstoßen hätte. Sollte ein Pass der Prinzessin wirklich die vielen Jahre überstanden haben, hat ihn v. d. Valck nach dem Tode der Dunkelgräfin mit anderen Papieren, Dokumenten und Identifizierungsbeweisen vernichtet.
Ein anderer Hinweis spricht ebenfalls für eine adlige Herkunft der Dunkelgräfin: die Begräbnisstelle auf dem Schulersberg bei Hildburghausen. Schon 1837 existierte in den deutschen Ländern aus umwelthygienischen Gründen eine strenge Ordnung bezüglich der Bestattungen. Ausser in traditionellen Familiengrüften – vornehmlich des Adels und des wohlhabenden Bürgertums – durfte niemand ausserhalb der Friedhöfe bestattet werden. Allerdings gab es auch Ausnahmen für geistliche und weltliche Würdenträger, die in Kathedralen und Klöstern beigesetzt wurden. Für die Dunkelgräfin machte der Meininger Herzog Bernhard II. eine Ausnahme, so wie sie es wünschte. Sie wünschte auf dem Privatgrundstück Schulersberg des v. d. Valck, das er im Juni 1833 erworben hatte, bestattet zu werden. V. d. Valck wollte neben seiner Partnerin zur ewigen Ruhe gelegt werden. Man erfüllte ihm diesen Wunsch nicht. Er wurde auf dem Friedhof in Eishausen bestattet. Der Herzog sah in der Dunkelgräfin eine gesellschaftlich hochgestellte Persönlichkeit. So kann man schon davon ausgehen, dass die Dunkelgräfin aus dem Hochadel stammte.
Folglich dürfte die Dunkelgräfin wie ihresgleichen im Kindesalter wohlbehütet aufgewachsen sein, also keinen extremen Stress, keinen Hunger oder andere Not erlebt haben – von den Wirren der Revolution in den letzten Jahren abgesehen. Es wurden aber bei ihr Stressmarker nachgewiesen! Wie sollte diese außergewöhnliche Dame zu Stressmarkern gekommen sein? Ihr Leben muss mindestens zeitweise im Jugendalter anormal, in äußerst prekären Verhältnissen verlaufen sein.
Überprüfen wir nun die Aussage der Anthropologin, ob „…es sich um Madame Royale in diesem Alter mit den entsprechenden Belastungen in diesem Altersbereich handeln könnte.“
Dr. Karl Kühner, der Sohn des Pfarrers Heinrich Kühner, hat schon 1852 in der Veröffentlichung „Die Geheimnisvollen im Schlosse zu Eishausen“ vermutet, dass die Dunkelgräfin und die Prinzessin die gleiche Person ist. Er stellte fest: Wenn die Dunkelgräfin 1837 mit 58 Jahren gestorben ist, muss sie 1779 oder Ende 1778 geboren sein (1837 – 58 = 1779). Und tatsächlich: Am 19.12.1778 wurde die Prinzessin geboren. Das heißt, 1837 war die Prinzessin ebenfalls 38 Jahr alt und sie lebte zur gleichen Zeit wie die Dunkelgräfin!
Prof. Dr. Wittwer-Backofen: Es sind „ …gut dokumentierte Stressmarken, die sich auf ein Alter zwischen 14 und 16 Jahren begrenzen lassen.“
Da beide, Dunkelgräfin und Prinzessin, zur gleichen Zeit lebten, muss auch ihre Jugendzeit 14. bis 16./17. Lebensjahr in die gleichen Kalenderjahre fallen, das sind die Jahre 1792 – 1794/95! Nun ist zu klären, wo und wie die Prinzessin in dieser Zeit gelebt hat? Das verrät uns das Geschichtsbuch: 1789 begann die Französische Revolution. Die Königsfamilie wurde am 13. August 1792 verhaftet und im Temple eingesperrt, einer alten Festung des Templerordens, die durch die Kommunarden zum Staatsgefängnis umgebaut wurde. Die Königsfamilie war hier einem extremen physischen und psychischen Stress ausgesetzt. Die Prinzessin erlebte wie ihre Eltern und ihre Tante Elisabeth nacheinander zum Schafott abgeholt wurden, was sie aber erst viel später erfuhr. Sie erlebte wie man auch ihren Bruder Ludwig Charles von ihr trennte. Das geschah alles ohne sie zu informieren, was mit ihren Lieben geschieht. Hier musste sie bis zum 18. Dezember 1795 – ein Tag vor ihrem 19. Geburtstag – zubringen. Das waren mehr als 3 Jahre. Eingesperrt in vier Wände wurde das unschuldige Mädchen ohne Gerichtsurteil bei magerer Kost und zeitweise in zermürbender Einzelhaft gehalten. Die Monotonie des Tagesablaufes sowie Existenz- und Zukunftsängste belasteten sie sehr. Sie konnte lange Zeit mit niemandem sprechen und war ständig den Schikanen der oft betrunkenen Wärter und Belästigungen der Besucher ausgesetzt. In dieser langen Leidenszeit, das einem Martyrium gleich kam, waren die Bedingungen gegeben, unter denen sich diese Stressmarken ausbilden konnten. Mit absoluter Wahrscheinlichkeit hat sich neben den Stressmarken auch ein erheblicher psychischer Defekt ausgebildet. Dieser hier erworbene anormale geistige Zustand war höchstwahrscheinlich eine der Ursachen für die Unterschiebung einer anderen Person vor der Reise der Madame Royale nach Wien. Zu dieser Zeit erwarteten die Royalisten noch die Wiedereinführung der Monarchie in Frankreich. Als einzige Überlebende aus der Königsfamilie hätte sie, wenn die Salischen Erbgesetze geändert würden, eine Chance auf den Königsthron gehabt, sie war die Titularkönigin. Aber mit dieser psychischen Verfassung hätte sie keine Repräsentationspflichten erfüllen und standesgemäß auftreten können. Dieser Situation bewusst, hatte man zunächst den ehemaligen Offizier der Schweitzer Garde Johann Philipp Scharr und später v. d. Valck mit der Obhut der Prinzessin beauftragt. Das war keine Entscheidung, die Scharr und v. d. Valck allein zu treffen hatten. Beide nahmen die Sache sehr ernst, waren ihr Beschützer, Manager und Diener zugleich – und sie schirmten die Dame stark ab. So verlief das Leben der Dunkelgräfin fremdbestimmt. Sie wurde für ihr ganzes Leben zum Spielball der Politik.
Hans Georg Otto / Suhl
In Zusammenarbeit mit:
Roland Eyring, Eishausen
Bernd Nickel, Aachen
Dr. Wolfgang Otto, Greifswald
Titelbild: Doppelbildnis Prinzessin Marie Therese Charlotte von Frankreich. Foto: Privat