Die Haselstaude ist Geschichte
Häselrieth. Das letzte Gebäude der 195 Jahre alten ehemaligen Häselriether Gaststätte „Zur grünen Haselstaude“ wurde vor einigen Tagen abgerissen. Warum war das unausweichlich?
Als der Häselriether Kirmesverein gerade den Aufbau seines Festzeltes hinter dem ehemaligen Spritzenhaus abgeschlossen hatte begann ein Bagger, das an der B 89 gelegene einsturzgefährdete Hauptgebäude der Haselstaude gemeinsam mit ihrem Saal abzureißen. Den wenigsten ist bekannt, dass er 76 Jahre lang Mittelpunkt der weit über die Dorfgrenzen hinaus bekannten Kirmes war. 2 Tage später liegt dort ein mächtiger Haufen Steine. Die Balken des Fachwerkbaues sind sorgsam aufgeschichtet, das Grundstück abgesperrt, der neue Bürgersteig gekehrt. Über den Zaun hinweg weht noch ein kleines bisschen der Geruch des alten Gemäuers. Für die betagten Häselriether sind das nicht nur Trümmer.
Mehr als eine Kneipe
Das Anwesen wurde 1824/25 errichtet und bestand aus einer Speisegaststätte mit Übernachtungsmöglichkeiten in einer Bodenkammer, einer gut ausgestatteten Büttnerei im Nebengebäude, der wohl größten Landwirtschaft des Dorfes mit 24 Ställen für Kühe und Gemeindebullen, Schweine, Kleinvieh, über 7 ha Wiesen, Feldern, dem Brauhaus und 2 Kellern zur Bierlagerung bis in den Sommer hinein. Das nötige Eis zur Kühlung wurde aus dem Gemeindeteich in der Schnettersmühle in Blöcken zu 1 x 1 m herausgesägt. Die daran Beteiligten, zumeist Stammgäste, erhielten als Entgeld Freibier. Zur Lagerung und zum Transport des Gerstensaftes dienten selbst hergestellte Holzfässer sowie das große, wappengeschmückte Fass auf dem berühmten Bierwagen, der von einem Kuhgespann gezogen wurde. Die letzten Überreste des Gefährts befinden sich im Stadtmuseum.
Direkt an der Werra neben dem Mühlrangen stand die „besteingerichtete Brauerei“ mit Malztenne und Welkboden. „Es wird bekannt gemacht, dass keiner was ins Wasser macht, denn heute wird gebraut“ lautete der Aufruf an die stromaufwärts gelegenen Hildburghäuser einen Tag vor Braubeginn. Die Dörfler konnten ihren „Haustrunk“ selbst herstellen. Sie nutzen diese Gelegenheit reichlich. Die Wirte verkauften das Gebräu in ihrer eigenen Gaststätte und lieferten es sowohl an die Konkurrenz im Kreisgebiet, als auch an die Glashütten in Bedheim und Veilsdorf.
Besondere Bedeutung hatte die „Grüne Stube“, der vor der Errichtung des Saales größte Raum, damals als „großer, beheizbarer Saal“ beschrieben. Sie wurde zu Tanz- und Theatervorstellungen, offiziellen Feiertagen (Sedan-Tag, Kaisergeburtstag), als Vereinslokal der Krieger, Turner und der Freiwilligen Feuerwehr sowie zu Familienfeiern genutzt. Außerdem war sie offizielle Amtsstube der Gemeinde. Vor 95 Jahren wurde von hier aus der Kampf gegen die Eingemeindung nach Hildburghausen gesteuert und der Sieg mit einem Freudenfest gefeiert.
Rechts des Hauptgebäudes stand die „überdachte Kegelbahn“, Heimat von 3 Vereinen. Nach ihrem verfallsbedingten Abriss in den 1960-ern wechselten die Kegler zum „Hassfurther“ nach Wallrabs und waren bei regionalen Meisterschaften erfolgreich.
Auf der anderen Straßenseite befindet sich vor dem „Wirtsgarten“ zwischen den mächtigen Bäumen der „Wirtsbrunnen“, damals zum Tränken von Nutztieren verwendet. Leider ist er in den 1950-er Jahren versiegt. Das könnte im Zusammenhang mit den Bauarbeiten an den Gleisen der Werrabahn gelegen haben. Auf seiner Vorderseite steht in Stein eingemeißelt „Schöpf im Schatten“ und „E. Bräutigam E. Hanf Dorfsm.“ (Amt im Gemeinderat). Daraus könnte 1836 als Baujahr abgeleitet werden.
Das Unternehmen wurde von zahlreichen Wirten, zuletzt von der Familie Schmidt, eine der reichsten im Dorf, betrieben. 1900 wurde über den Ställen ein neuer, mit Parkett, Holzdecke, Bühne, Buntglasfenstern und 2 Emporen ausgestatteter Saal errichtet, um der durch die Gründungen von Sägewerk und Glashütte gewachsenen Einwohnerzahl Rechnung zu tragen. Dort fanden alle großen Veranstaltungen des Dorfes, wie z. B. Kirmes, Fasching, Versammlungen der damals zahlreichen und mitgliederstarken Vereine, Tanzabende, Weihnachts- und Osterfeiern statt. Es wurde auch Turnunterricht gegeben, denn die Dorfschule verfügte erst ab 1965 über eine im Eigenbau errichtete Halle, die schon längst abgerissen ist.
Reger Betrieb
Die Gäste tranken nicht nur. Es existierte sogar ein Radio, im Saal wurden auch mal Filme („bewegte Bilder“) gezeigt, man war „Post- und Telegraphenhilfsstelle“. Letztere gab man 1944 auf, um nicht als einzige im Ort Todesnachrichten von der Front überbringen zu müssen. So nebenbei entwickelte sich am hoch frequentierten Treffpunkt, an dem auch Kochrezepte diskutiert und verbreitet wurden, ein vom reichen Wirt betriebenes Kreditgeschäft, etwa, um für einen Bauern den Kauf einer Kuh für 270 Reichsmark zu finanzieren. „Wenn de dei Schulde net kusst bezohl, gist ma hald dei Ackerla“. Die höchsten Umsätze bei geringstem Risiko erzielte Ernst Schmidt mit der Gemeinde: Er verborgte bis zu 5130.- Reichsmark (heute ca. 20.000 Euro), was dies mehr oder weniger von ihm abhängig machte.
Vor dem 1. Weltkrieg, der Blütezeit des Unternehmens, bot man den Gästen hochwertige Speisen an, etwa Lamm- oder Kalbsbraten mit Klößen, zum Nachtisch Eis oder Apfelkompott, auch bei Konfirmationen oder nach Kirchenvisitationen. Selbst die ältesten Häselriether glaubten bei den Vorträgen zur 725-Jahrfeier 2012 der präsentierten Speisekarte nicht.
Neben den Dörflern besuchten zumeist an Feiertagen und im Anschluss an einen gemütlichen Spaziergang die Hildburghäuser diese Wirtschaft. Zu ihnen zählten ebenso Studenten des Technikums, die gelegentlich mit den Burschen des Dorfes ihre Handel austrugen. Vor allem ging es um die dortigen Mädchen. Aus Rache sperrten die Dorfburschen gelegentlich eine der beiden Brücken, um sie zu einem Umweg oder durch den Fluss zu zwingen: “Mir ham die nei da Warr gstellt“.
Außer den „normalen“ Gästen verkehrten hier die „Schnupper“ und die „Bierratten“, junge Männer, die sich zum Zwecke der Geselligkeit zusammengeschlossen hatten. „Die Bierratten, das waren junge Kerle, die hatten schwarze, breitkrempige Hüte auf und beim Wandern einen Spazierstock dabei. Die haben Späße gemacht und in der Haselstaude ihr Bier getrunken und eine Pfeife geraucht, sonst weiter nichts“, (Grete Künzinger, 96).
Ein wenig Profit hätten die Schmidts im Zeitalter der Lebensmittelkarten bis 1958 selbst machen können, aber „die ham ihr Knacker lieber selba gfrasse.“ Da die Küche aus hygienischen Gründen langjährig gesperrt war – dort und im Flur liefen Hühner und um die 10 Katzen herum – war es verboten, Essen zu verkaufen, noch nicht einmal warme Würste. Zu besonderen Anlässen allerdings brachten die Gäste Kartoffeln, Gänse oder Enten mit, um ihren Festschmaus mehr oder weniger selbst zuzubereiten.
Natürlich wurde auch gesoffen. Von 1970-89 hatte Erichs Schwester Hannelore Schmidt über den Tresen mehrere tausend Flaschen Hochprozentigen mit steigender Tendenz verkauft. An der Spitze standen Klarer, Doppelkorn und Rhöntropfen, ganz hinten Wodka und Goldbrand. In der Kneipe selbst dominierte Bier, das Glas für 48 Pfennig. Zechenbücher aus den 70-ern belegen, dass die Spitzenreiter 13-15 Gläser am Abend leerten. Mit Rücksicht auf ihre Nachfahren verbietet es an dieser Stelle der Anstand Namen zu nennen. Hannelores Kunden sind ebenfalls bekannt. Der allergrößte Durst herrschte wohl in der Schnettersmühle…
Blüte und Niedergang
1884 war das Unternehmen für 18.300 Reichsmark gekauft worden. 1914 hatte es schon einen Wert von 28.000 Reichsmark und erzielte weitere Gewinne. Wie kam es dennoch zum Niedergang? Aus heute unbekannten Gründen nahm Bruder Kurt Schmidt des Wirtes Paul („Wirts-Paul“) 1925 ohne Wissen der Verwandtschaft bei einem windigen Geldverleiher einen Kredit über 4.000 Reichsmark gegen den Eintrag einer Hypothek in das Grundbuch auf. 1928 war er zu dessen Rückzahlung nicht fähig. Die Schmidts führten Prozesse, legten Revisionen ein und hatten Zinsstreitigkeiten zu klären. Diese Misere hing jahrelang wie ein Damoklesschwert über ihnen und beeinflusste alle weiteren Aktivitäten. Es gelang erst 1949, die Darlehensschuld endgültig zu tilgen.
1927 wanderte Pauls Schwester Selma Schmidt nach Argentinien aus. Ihre nie nachgeschickten Möbel standen 2012 noch im ehemaligen Schlafzimmer. 1930 verstarb ihr Vater Ernst. Die Erbauseinandersetzung mit der sich im Laufe der Jahre erheblich vergrößerten Verwandtschaft in Deutschland, Südamerika und den USA gelang weder in der Zeit des 3. Reiches noch in der DDR. 2007 verstarb Pauls Sohn Erich. Danach wurde begonnen, das Erbe zu klären.
Die Saal-Rückwand wurde im April 1945 durch eine amerikanische Granate getroffen und provisorisch repariert. Allmählich geriet der gesamte Dachstuhl ins Wanken. Einzelne Steine stürzten herunter und der Giebel neigte sich im Laufe der Jahre bedrohlich nach außen.
Dann fuhr auch noch ein US-Panzer an das Brauhaus und beschädigte es schwer. Im Laufe der Jahre hatten die Einwohner es schon bis auf den Dachstuhl instand gesetzt, um es um 1955 aus heute unbekannten Gründen komplett abzureißen. So setzte sich der Niedergang des gesamten Unternehmens langsam aber stetig fort, zumal alle Gebäudedächer immer undichter wurden. Wenn man den Aufzeichnungen glauben darf, wurde die letzte größere Instandhaltung 1934/35 durchgeführt, bei der Fenster ausgetauscht und Dachrinnen erneuert wurden.
Erich Schmidt hatte weder das Geld noch die Kraft und die Gelegenheit, das Haupt- und Nebengebäude und den Saal instand zu halten. Allerdings hatte er auf dem Dachboden damals schwer beschaffbare Balken, Bohlen, Bretter und Dachrinnen eingelagert. Was ihn abgehalten haben könnte: die Gebäude waren nicht sein alleiniges Eigentum, er kannte die Übersee-Verwandtschaft kaum und was er erben würde, war unklar.
1961 erreichte die Zwangskollektivierung Häselrieth. Die Tiere und Nutzflächen wurden somit dem Unternehmen entzogen, Erich und seine Schwester zu Lohnarbeitern in der Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft.
1976 wurde der Saal gesperrt. Letzte Veranstaltung war die traditionsreiche Kirmes. „Das Fehlen eines Saales ist die hauptsächliche Ursache für den katastrophalen Rückgang des gesellschaftlichen Lebens…“. So beschrieb Ortschronist und Haselstauden-Nachbar Günter Fink die Situation. Man könnte auch feststellen, dass nur noch getrunken und Karten gespielt wurde und ab und an kreuzte Ungermann Hubert mit seiner Teufelsgeige auf.
Was die Einnahmen der Gastwirtschaft betraf: Sie wurden immer geringer, denn die Kundschaft wendete sich ab: Die Schule, die Feuerwehr, der Sportverein bauten ihre eigenen Häuser und tranken Flaschenbier aus dem Konsum. Die Kegler ließen ihre Kugeln in Wallrabs rollen, manche Stammkunden gingen in andere Wirtschaften. Damit fielen die Einnahmen für den Saal und die Grüne Stube ebenso wie die Gewinne aus den Zechen weg. Man verdiente lediglich am Handel mit Flaschenbier, Rauchwaren, hochprozentigen Getränken und dem Verkauf der selbst erzeugten landwirtschaftlichen Produkte.
Abriss und Abschied
Im Winter 2005/06 drückten hohe Schneelasten große Teile der Dächer ein. Erich Schmidt erhielt die Aufforderung der staatlichen Bauaufsicht, Sicherungsmaßnahmen zu ergreifen, tat aber nichts, obwohl bereits ein Bauprojekt vorlag. 2007 begann die Räumung des Komplexes durch die „Stammtischbrüder“, Nachbarn sowie das Stadtmuseum, das Funde wie etwa ein Dutzend Zechenbücher, Abrechnungen, die Bierauslieferungen, aber auch Handarbeitswerkzeuge sicherstellte. Die Goldmünzensammlung Erichs wurde nicht gefunden, vielleicht lag sie mal in seinem aufgebrochenen Sekretär.
2008 gründete sich der „Heimatverein Haselstaude e.V.“, der die untere Etage nach Genehmigung durch die Schmidt-Erben nutzen konnte. Er richtete zur Bewahrung des dörflichen Brauchtums und der Braukultur eine Heimatstube ein. Ferner kämpfte er darum, das Gebäude zu er- und behalten. Bürgermeister Harzer und der Kulturausschuss der Stadt Hildburghausen versuchten alles, schlussendlich ohne Erfolg. Die exorbitante Baufälligkeit, strenge Brandschutzauflagen, die daraus resultierenden hohen Kosten und der zu geringe historische Wert führten schließlich zum Auszug des Vereines in eine neue Unterkunft in der Dorfmitte. Die Sammlung der Heimatstube wurde in die ungenutzte Friedhofskapelle verlagert.
Das Anwesen wurde von den Erben an die Stadt übereignet. 2011 wurde die Treppe des Hauses vom Verein auf eigene Kosten repariert und die Grüne Stube in den Originalzustand versetzt. Bei der 725-Jahrfeier 2012 stand die Haselstaude im Mittelpunkt der Festlichkeiten, obwohl es zunächst zu einem Eklat kam: Die Stadt untersagte unmittelbar zuvor den Zutritt zur oberen Etage. Erst nach massiver Intervention wurde die Sperre für den Festnachmittag zurückgenommen.
Im Parterre saßen und tranken die zahlreichen Gäste in der alten Wirtsstube. Sie besuchten die Ausstellungen in der Heimatstube. Sie konnten in der 1. Etage einen kurzen Blick in den Saal werfen und gegenüber in der Grünen Stube eine Ausstellung mit Gemälden von Alt-Häselrieth bewundern, manche mit feuchten Augen.
Was bleibt:
Von der „hardware“ überlebten der vom Heimatverein gepflegte Wirtsbrunnen und –garten, verschiedene Einrichtungsgegenstände, das Parkett des Saales sowie der vom Sohn des letzten Restaurators sichergestellte Namens-Schriftzug an der Fassade. Die „software“, das sind die schönen Erinnerungen der Alten an ihre Jugend, als sie noch gesund waren und feiern konnten. Winzige Ausschnitte davon kann man sich hier ansehen:
Die Kirmes mit Umzügen (1949/57/76),
den Maskenball in der Haselstaude (1956 oder 1957)
und den Karnevalsumzug durch Hildburghausen (1959). Ein weiteres Video ist in Vorbereitung.
Dr. Klaus Swieczkowski
Hildburghausen
Fotos: Dr. Klaus Swieczkowski
(Quelle: „Zur grünen Haselstaude“; Festschrift des Heimatvereins zur 725-Jahrfeier des Stadtteiles Häselrieth 2012 (120 Seiten, 159 Bilder). Sie liegt beim Autor digital vor (130 MB).)