Die „Sieben Löcher“
Hellingen. Vor der Elektrifizierung der Glockengeläute auf den Kirchtürmen haben unter anderem die Läutejungen die Glocken zum Schwingen bringen müssen. So auch in der Gemeinde Hellingen. Für das Läuten zur Mittagszeit und Gebetläute am Abend mit einer Glocke war ein Beauftragter der Kirche zuständig. Für das Läuten zu Schulbeginn und mit allen vier Glocken zu Feierlichkeiten und am Freitagmittag um elf und Sonnabend um zwölf Uhr waren nach einem ungeschriebenen Gesetz die Jungen der achten Klasse zuständig. Sie durften zu dieser Zeit ohne zu fragen den Klassenraum verlassen und sich auf den Turm begeben. Das geschah nicht immer lautlos. So kamen alle Buben aus dem Dorf über Jahrzehnten zu dieser speziellen Aufgabe. Hier wurden viele Dummheiten gemacht, das Rauchen und andere Sachen ausprobiert. Öfter ging es zwei Stockwerke höher zu den Glocken, um sie zu bewundern und einmal aus den Schalllöchern zu schauen. Mutige stiegen noch zwei Etagen hinauf, um aus den sogenannten „Sieben Löcher“ zu blicken, (das sind die Zwischenräume der Balken, die die Kirchturmspitze bei einem Zwiebelturm tragen). Da es ein Muss für jeden war, einmal da oben gewesen zu sein, bemühte ich mich mit meinen 13 Jahren schweren Herzens auch einmal hinauf. Nachdem ich den schweren Ausstiegsdeckel zur Seite geschoben hatte, steckte ich nur den Kopf hinaus. Es war ein einzigartiger Anblick, rundum nur Himmel, Wind und die Ständer der besagten „Sieben Löcher“. Was mich bewegte, diese „Löcher einmal zu zählen, weiß ich heute noch nicht. Ich kam beim ersten Mal auf acht, beim zweiten Mal auf sieben. Es war nicht möglich, mit dem Himmel im Hintergrund die richtige Anzahl festzustellen. Das ließ mich auch nach dem Abstieg nicht in Ruhe. Ich beschloss einen zweiten Aufstieg mit einem Stück Kreide in der Hosentasche. Oben angekommen nummerierte ich auf dem Blechdach jede Luge. Und siehe da, es waren acht. Obwohl ich es publik machte, gibt es in Hellingen immer noch den Begriff: „Die Sieben Löcher“, aus denen heute niemand mehr schaut.
Lothar Götz
Streufdorf
Titelbild: Die Hellinger Kirche aus den Jahr 1793 mit Turm und den besagten (sieben Löcher) acht Zwischenräume des Gebälks unterhalb der Turmspitze. Foto: Lothar Götz
Biografie von Lothar Götz
Leser und Verfasser vieler Artikel in der Südthüringer Rundschau
Lothar Götz wurde 1937 in Hellingen/bei Heldburg geboren. Er wuchs unter landwirtschaftlichen Verhältnissen auf, besuchte acht Jahre die Grundschule, zwei Jahre die Landwirtschaftliche Berufsschule und arbeitete dann im elterlichen Betrieb. 1959 qualifizierte er sich zum Feldbaumeister. Im Jahr 1960 wurde er Mitglied der neu gebildeten LPG. Erst als Pferdekutscher und Handarbeitskraft im Feldbau, und dann als Traktorist. Nebenbei erwarb er den „Titel Lehrmeister der Sozialistischen Produktion“. 1970 wurde er für sechs Jahre Technikeinsatzleiter auf den Technikstützpunkt Hellingen. Vier Jahre Fernstudium konnte er mit der Berufsbezeichnung Agraringenieur abschließen. Von 1976 bis zur Wende war er Futterökonom in der LPG Pflanzenproduktion. Durch ein weiteres Fernstudium qualifizierte er sich zum „Fachingenieur für Graslandagronomie und Weidetechnologie“. Auf diese Berufsbezeichnung ist er besonders stolz, weil sie höchstwahrscheinlich in der ganzen Bundesrepublik nur neunmal verliehen wurde. Nach der Wende war er drei Jahre in der „Unteren Naturschutzbehörde“ tätig, und war anschließend als Naturschutzbeauftragter des Kreises eingesetzt.
Seit 60 Jahren ist er Hobbyimker und Naturschützer. Nach seiner Einschätzung hat er in dieser Zeit rund 4 t Honig geerntet, 300 Bäume gepflanzt und ebenso viele Nistkästen gebaut. Viele Jahre hat er eine Arbeitsgemeinschaft „Junge Imker“ geleitet. Für all sein Engagement wurde er 2017 bei den „Grünen Tagen“ in Erfurt von der Ministerin für Landwirtschaft Brigitte Keller ausgezeichnet. Elf Jahre war er an der Hellinger Schule als Betreuer im Polytechnischen Unterricht tätig. Auch war er 25 Jahre Mitglied der Freiwilligen Feuerwehr und 29 Jahre ambulanter Fleischbeschauer. Politisch hat er sich in der VdgB (Vereinigung der gegenseitigen Bauernhilfe) engagiert, ebenso wie im VKSK (Vereinigung der Kleingärtner, Siedler und Kleintierzüchter), wo er als Vorsitzender der Sparte Imker viele Auszeichnungen erhielt.
Seit nun elf Jahren wohnt Lothar Götz in Streufdorf, engagiert sich für den Naturschutz und schreibt regelmäßig Artikel für die Südthüriner Rundschau. Durch seine Vielfältigkeit fehlt es ihm nicht an Stoff, was bei den Rundschau-Lesern immer gut ankommt.