Die Unentbehrlichen
Ich muss gestehen, dass mich die Entwicklung dieser Montagsdemonstrationen in Hildburghausen etwas ratlos hinterlässt. Hatte man den Leuten dort anfangs zugehört, so hatte es den Anschein gehabt, als kämpften diese Menschen täglich um das blanke Überleben.
Jetzt, so scheint es, war es doch irgendwie nicht ganz so schlimm. Jedenfalls nicht schlimm genug, als dass man wirklich etwas riskieren müsste, um zu einer echten Veränderung zu kommen. Viele scheinen auch fürchterlich enttäuscht, dass aus der Sache nicht binnen Wochen ein demokratischer Flächenbrand geworden ist, der die ganze Republik erfasst hat.
Und weil man enttäuscht ist, zieht man sich – laut schimpfend über „die Leute“, die alle so feige und träge sind – selbst wieder in die Trägheit zurück. Ich bin immer wieder überrascht, wie wenig es braucht, dass Menschen die Flinte ins Korn werfen.
Was haben die denn erwartet, frage ich mich? Dass das gesamte System zusammenbricht, wenn in Hildburghausen 50 Leute ein paar Wochen vor dem Alten Rathaus herumstehen und schimpfen? Wenn man einen starken Gegner ins Visier nimmt – und „das System“ ist zweifellos ein starker Gegner – sollte man dann nicht realistisch genug sein, den eigenen Anstrengungen etwas mehr Zeit zubilligen?
Gerade war ein Freund aus dem Hambacher Wald bei mir zu Besuch. Wie auch immer man diese Auseinandersetzung einschätzt, wird niemand bestreiten wollen, dass die dortigen Aktivisten einige echte Erfolge errungen haben. Aber wie ist das gelungen?
Der Hambacher Wald ist seit sieben Jahren besetzt: Sieben Jahre! Sieben Winter!
In dieser Zeit wurde der Hambi schon dreimal von der Polizei komplett geräumt. Zuletzt 2014 und dann wieder 2018. Aber dreimal wurde der Wald wieder besetzt – und aktuell stehen dort, nach Zählung der Behörden – schon wieder mehr Baumhäuser, als vor der letzten Räumung.
Das ist für den Konzern RWE und für die Staatsmacht ziemlich frustrierend, denn diese Räumungen mit jeweils mehr als 10.000 Beamten, schwerem Gerät, USK, SEK, Höhlenerkundungsteam, Kränen und Hebebühnen sind auch für die Exekutive kein Zuckerschlecken gewesen.
Das Besetzerdorf „Oaktown“ zum Beispiel hatte die Verteidigungsstrategie „Hoch und Tief“. Das höchste Baumhaus thronte 20 Meter weit oben in einer alten Eiche. Der Bewohner hatte sich zudem mit einem komplizierten System, das mit seinem glühend heißen Ofen verbunden war, festgekettet, so dass die Polizei alleine sechs Stunden brauchte, diesen einen Mann loszueisen.
Gleichzeitig gab es unter „Oaktown“ einen zehn Meter tiefen Tunnelschacht, dessen Zugang mit Betonplatten und Stahlplatten und Eichenholz verbarrikadiert war. Der Besetzer da unten hatte seinen eigenen Luftschacht, eine Komposttoilette und Vorräte. Die Polizei blieb machtlos, bis der Mensch endlich wegen akutem Tabakmangel von selber aufgab.
Diese Leute im Hambi haben für die Bäume, die zu schützen sie sich entschlossen hatten, in vielen Fällen tatsächliche Lebensgefahr auf sich genommen. Die Räumung verlief in vielen Fällen unglaublich brutal und hat Menschen traumatisiert. Trotzdem wurde der Wald postwendend wieder besetzt.
Das ist Hartnäckigkeit. Das ist Ernsthaftigkeit. So kann man gewinnen: mit Menschen, die nicht nur nörgeln, sondern handeln – und zwar so lange, bis sie gewonnen haben. Das sind jene Unentbehrlichen, über die Bertolt Brecht einst sagte:
„Die Schwachen kämpfen nicht. Die Stärkeren kämpfen vielleicht eine Stunde lang. Die noch stärker sind, kämpfen viele Jahre. Aber die Stärksten kämpfen ihr Leben lang. Diese sind unentbehrlich.“
Prinz Chaos II.
Weitersroda
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