Muss man sich wundern, dass das Ansehen der Politik so schlecht wie niemals zuvor ist?
Leserbrief. Muss man sich wundern, dass das Ansehen der Politik so schlecht wie niemals zuvor ist? Die Demokratie muss sich wandeln.
Die Kanzlerin und ihr Gesundheitsminister haben den ganzen Sommer 2020 dafür genutzt, die Bürger ständig vor einer möglichen Gefahr zu warnen: Urlaub? Lieber nicht. Restaurants offen? Oh Gott, bloß nicht. Familienfeiern? Zu gefährlich. Dabei lag die Inzidenz im Sommer wochenlang irgendwo zwischen 10 und 20. Im ständigen Warnen wurde aber vergessen, das Land auf die zweite Winterwelle vorzubereiten. Es gab immer noch keine Teststrategie, keine Lüftungssysteme für Schulen, keine brauchbaren Warn-APPS, keine Vorbereitung auf mögliche Impfstoffe. Gastronomen, Händler und Schulleiter mussten sich selbst vorbereiten, mit hohen Kosten.
In unserem Kreis überbot man sich mit ständigen Vorwürfen, welche Partei die bessere Strategie habe und vergaß dabei, dass es nicht um Umfragewerte und Reputation gehen darf, sondern um die Bekämpfung der Pandemie. Während die Bürger schon im Herbst Corona-müde waren, sich schon lange kaum jemand an die meisten Kontaktbeschränkungen hielt – auch wegen ihrer Lebensfremdheit und deshalb, weil es scheint, als würden nur die Bürger in die Pflicht genommen, nicht aber die Wirtschaft.
Als würde gegängelt um des Gängelns willen und nicht deshalb, um ein Ziel zu erreichen. Genau deshalb sinken die Zahlen hier nicht, weil die Kontakte eben nicht mehr reduziert werden. Genau deshalb hängt Deutschland seit November in einem halben „Lockdownchen“, müssen Gastronomen, Händler, Hoteliers, Künstler längst um ihre Existenz bangen – und ein Ende ist nicht in Sicht. Es ist ein Lockdown ohne Ende.
Warum gelang es in Portugal? Das einstige Corona-„Sorgenkind“ hat sich zum „Musterschüler“ entwickelt. Lag die 7-Tages-Inzidenz in Portugal im Januar noch bei 880, ist sie aktuell auf unter 30 gesunken. Um das zu erreichen, hat das EU-Land einen klaren Weg verfolgt. Das Erfolgsrezept ist vielmehr ein knallharter, kompromissloser Lockdown seit Mitte Januar, der die Corona-Zahlen so deutlich senken konnte. Die harten Wochen haben sich mittlerweile ausgezahlt: Noch vor Ostern hat das Land mit ersten vorsichtigen Lockerungen begonnen. Seit Anfang April darf die Außengastronomie erstmals nach gut zweieinhalb Monaten wieder öffnen. Einzelhändler dürfen sich einen Tisch in den Eingang stellen und darüber verkaufen. Ebenso dürfen Museen und Galerien, Straßenmärkte und Fitnesszentren sowie andere Sporteinrichtungen unter strengen Auflagen wieder öffnen. Auch die Schulen waren in Portugal während des harten Lockdowns geschlossen: Für Schüler zahlreicher Jahrgänge gibt es jetzt erstmals seit Wochen wieder Präsenzunterricht. Laut einem Spiegel-Bericht sollen ab dem 3. Mai dann auch Restaurants mit dem nötigen Distanzkonzept wieder öffnen. Das wäre ein Traum für uns. Wir lechzen nach Kultur, Freiheit und Selbstbestimmung.
Ein wichtiger Faktor am Gelingen war in Portugal, dass die gesamte Bevölkerung die Regeln der Gesundheitsbehörde akzeptierte. Die Menschen akzeptieren die Regeln, das hat auch politische Gründe. Alle Kräfte inklusive der Opposition waren von Anfang an eingebunden und werden regelmäßig bei Anhörungen beteiligt. Erst danach entscheidet die Regierung. Das Zusammenspiel von Parlament, Präsident und Regierung hat sehr geholfen, hinzu kam die transparente Art und Weise in der sie Gesundheitsexperten beteiligt haben. Bei der Aufklärung und Mobilisierung der Bevölkerung etwa, über die Virus-Varianten. Dieses Zusammenspiel ist die Erklärung für die derzeitige Lage.
Transparenz, Zusammenspiel, Aufklärung, Einbindung aller Kräfte und Akzeptanz der Regeln sind Schlagworte, welche wir nicht mehr kennen. Bei uns gibt es keinen sachlichen Konsens mehr. Die Befürworter eines harten Lockdowns sind die Guten – die Skeptiker und, es gibt sie leider, die Leugner die Bösen. Es gibt nur noch ein Schwarz-Weiß-Denken. Warum findet kein Austausch mehr statt?
Wir sind in einer Stimmungs-Demokratie. Ich spüre, dass die Leute das Vertrauen in das Funktionieren unserer Demokratie verlieren. Die Machtkämpfe bei der Kür von Kanzlerkandidaten stehen im Vordergrund, die Talkshows übernehmen die Arbeit der Parlamente und Politiker überbieten sich an einer Selbstdarstellungsshow. Ihre Floskeln wie „wir müssen zusammenstehen, Opfer bringen und gemeinsam schaffen wir das“ nimmt keiner mehr wahr. Die Opfer werden den Bürgern auferlegt und selber profitiert man am Leid durch Schmiergelder und Korruption.
Operationen werden wegen Überlastung abgesagt, die Pflegekräfte stoßen an den Rand der Belastbarkeit und Patienten werden nicht mehr menschenwürdig versorgt. Beispiele gibt es zur Genüge.
Wo bleibt der Aufschrei und wo sind Politiker, die nicht Politik nach Umfragewerten machen, sondern denen man abnimmt, dass sie es ernst meinen. So lange sich in Krisenzeiten Politiker bereichern, Wasser predigen und Wein trinken, werden „Notbremsen“, Ausgangsbeschränkungen und Grundrechtseinschnitte nicht mehr toleriert. Macht endlich Politik mit dem Volk – nicht gegen das Volk!
Ich habe einen Traum, einen Traum von einer Politik, die diese zum Wohle der Bevölkerung und nicht zum eigenen Wohle macht, denn unsere Demokratie ist in Gefahr – Repräsentative Demokratie muss durch mehr Teilhabe ergänzt werden. Wenn die Politik es nicht mehr als ihre Aufgabe ansieht, die Interessen der Mehrheit zu vertreten und Kompromisse zu schließen, sondern nur noch den Fachleuten zuhört und der Wissenschaft folgt, dann ist die Demokratie gefährdet. Wir müssen zu einem öffentlichen Diskurs finden, in dem Wissen, Werte und Interessen ihren legitimen Platz finden.
Hans-Jürgen Rumm
Hildburghausen
Foto: benjaminkerber auf Pixabay
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