„Spieglein, Spieglein an der Wand, was läuft schief in unserem Land?“
Leserbrief. Dreißig Jahre nach dem Mauerfall stehen wir, meiner Meinung nach, vielleicht vor einem Wendepunkt unserer Werte und unserer Kultur, die unsere Vorfahren nach Kriegsende mit viel Fleiß und einer gewissen Portion Stolz an uns weiter gegeben haben.
Nun sind die Vorstellungen der Werte von Generation zu Generation unterschiedlich zu bewerten. Doch so ein gefühlt großer Werteverfall, den wir jetzt erleben müssen, ist sicher einmalig in der Nachkriegsgeschichte. Selbst das zu vererbende Sparbuch ist bei den jetzigen Negativzinsen nichts mehr wert.
Ich erinnere mich gern an meine unbeschwerte Kindheit und Jugend im sogenannten „Unrechtsstaat DDR“ zurück. In unserem kleinen Dorf hatten wir eine Kneipe, die im Volksmund als „Haifischbar“ über viele Ortschaften bekannt war. Außerdem gab es einen Kindergarten mit Köchin, die auch für unsere Senioren gekocht hat, einen Konsum, eine Poststelle, ein Bürgermeisteramt. In unserem Dorf gab es sogar ein Ärztezimmer und wenn sich die älteren Herrschaften über ihre „Wehwehchen“ unterhielten, mussten wir als Kinder immer kichern, denn wir waren kerngesund. Von „Lactose-Intoleranz“ und „Glutenunverträglichkeit“ hatten wir damals nie etwas gehört. Nicht zu vergessen ist auch eine Altstoffannahmestelle, die „SERO“ genannt wurde. Voller Begeisterung sammelten wir als Kinder Flaschen, Pappe und Papier, um das Taschengeld ein wenig aufzubessern. Von den Altkleidern wurden fein säuberlich Knöpfe und Reißverschlüsse raus getrennt. Wir lebten schon damals gesellschaftlich sehr modern und vor allem nachhaltig!
Smartphones, WhatsApp und die sozialen Netzwerke existierten nicht. Brandaktuelle Nachrichten sind wir in unserem Jugendzimmer oder an der Bushaltestelle losgeworden. Das einzige Telefon stand im Bürgermeisteramt und wurde nur für wichtige Angelegenheiten oder dringende Notfälle genutzt.
Mit zunehmendem Alter trafen wir uns auch in der Kneipe. Im Teenie-Alter besaßen die Meisten ein Moped. Und wer ein Simson S50/51 hatte, war besonders stolz, denn das Geld dafür bekam man meistens nicht geschenkt. Man musste sich seinen kleinen Traum der großen Freiheit eisern zusammensparen.
Mir klingeln heute noch die Ohren, wenn die Alten in der Kneipe wetterten, wir würden das Benzin sinnlos mit den „jungen Weibern“ verkutschen, wo doch die Betriebe kaum Benzin für den B 1000 hatten, um die Arbeiterklasse zur Schicht zu bringen.
Bei uns war ständig was los. Langeweile und Stubenhockerei kannten wir nicht. Fast jeden Dienstag fuhren wir mit dem Moped nach Themar zur Disco. Freitags ging es abends in die Kneipe. Samstags trafen wir uns auf den anliegenden Dörfern zum Tanz. Sonntags, nach der Jugendtanzveranstaltung, die bereits 16 Uhr begann, nicht wie heutzutage erst um Mitternacht, gingen wir meist ins Kino nach Themar, um den neuesten Film anzuschauen.
In der Sommerzeit gab es sogar im Schwimmbad Themar ein Freilichtkino, bei dem sich so manches junge Mädchen zum neuesten Olsenbandefilm verführen ließ. Da unsere Woche komplett ausgebucht war, sind wir demzufolge gar nicht erst auf Dummheiten gekommen.
Unser Dorf war wie eine familiäre Gemeinschaft. Jeder wusste über Jeden Bescheid. Wenn Besuch aus dem Westen kam, erinnere ich mich noch an ihre staunenden Gesichter, wenn Alt und Jung in der Kneipe an einem Tisch zusammensaßen, sich über belanglose Probleme unterhielten und dabei Doppelkopf spielten. So etwas kannten die jungen Leute aus dem Westen nicht! Meist trugen die alten Herren Silastikhosen und in den Brusttaschen ihrer Dederon-Hemden, im Westen hieß derselbe Stoff übrigens Perlon, steckte stets eine Schachtel F6 oder Juwel. Niemand störte sich an Zigarren-, Zigaretten- oder Tabakrauch, das Wort Allergie kannten wir nicht.
Aber man darf auch nicht vergessen, dass in der DDR nicht nur alles gut war! 1989, als die ersten Montagsdemonstrationen in Leipzig stattfanden, fuhr ich mehrfach mit meinem Trabi über die Betonpiste nach Leipzig. Meine Mutter machte sich damals große Sorgen, wenn ich im Herbst bei Nacht und Nebel solche Strecken zurücklegte, denn ob die Demos friedlich bleiben würden, wusste ja niemand. Sie hatte Angst, dass es wieder so werden könnte wie am 17. Juni 1953, als russische Panzer den Volksaufstand niederschlugen.
Nach vielen aufregenden Tagen und Wochen wurde im November 1989 die Grenze geöffnet. Es war Aufbruchstimmung, alle Möglichkeiten standen offen. Wir hatten Westgeld, die heilige D-Mark und die lang ersehnte Reisefreiheit. Unsere nachhaltige „SERO-Annahmestelle“ wurde aber abgeschafft. So etwas brauchte man im goldenen Westen nicht. Und auch, wenn viele Menschen durch die Treuhand arbeitslos wurden, spürte man doch einen regelrechten Aufschwung in unserem vereinten Vaterland. Autobahnen und Straßen wurden neu gebaut. Unsere kaputten Innenstädte erstrahlten in neuem Glanz. Und wir waren überaus dankbar, dass so viele Steuergelder aus dem Westen für den Neuaufbau des Landes investiert wurden.
Nun sind 30 Jahre vergangen. Vieles, wofür wir damals gekämpft und demonstriert haben, steht heute wieder auf der Kippe. Man spürt, wie die Gesellschaft verroht und Andersdenkende, wie damals in der DDR, gnadenlos mundtot gemacht werden. Die Stimmung in unserem Land brodelt und manchmal hat es den Anschein, dass wieder eine Veränderung vor der Tür steht. So kann man feststellen, dass ein illegal Eingereister mit falscher Identität höher angesehen ist, als ein deutscher Professor mit einer vom Mainstream abweichenden politischen Meinung.
So, oder so ähnlich, erging es auch mir vor nicht all zu langer Zeit. Durch eine Grundstücksvermietung gelangte ich blitzschnell in den Sensations-Strudel der deutschen Presse. Eine Interview-Anfrage jagte die nächste. Als ein Journalist der regionalen Medien bei mir war, verbot mir meine Tochter ein Interview zu geben. Sie hatte Angst, ich könnte etwas Falsches sagen. Und so musste ich feststellen, dass rund 30 Jahre nach der friedlichen Revolution meine Tochter Angst um mich hat wegen meiner oftmals kritischen, politischen Meinung.
Seit diesem Tag hat sich in mir Vieles verändert. Wenn ich heute an die Berichterstattung der öffentlichen Medien denke, dass wichtige Nachrichten meist gar nicht gebracht werden und wenn, dann verharmlost oder verdreht werden, so frage ich mich: Wie lange kann dieses kranke, längst kaputte System noch bestehen bleiben? Eltern müssen Angst um ihre Kinder haben und umgekehrt. Vergewaltigungen, Messerstechereien, Mord und Totschlag werden mittlerweile als normal in unserer offenen Gesellschaft hingestellt. Eine Schreckensmeldung jagt die andere. Es ist wie ein eiskalter Wind, der das sinkende Schiff vorantreibt.
Verbrechen und Kriminalität haben in den letzten Jahren so zugenommen, dass man nicht mehr in der Lage ist, alles zu verarbeiten und droht förmlich abzustumpfen. Man könnte denken, dass die etablierten Parteien die Verbindung zum Volk verloren haben, denn längst stellen sie jeden, der auf Missstände aufmerksam macht, sofort in die rechte Ecke. Doch jeder gesunde Menschenverstand hat die Schieflage und Spaltung unserer Gesellschaft lange erkannt, wie man bei der letzten Landtagswahl in Thüringen bereits sehen konnte.
Besinnen wir uns wieder auf die alten Werte! Vielleicht ist es wieder Zeit für eine Friedliche Revolution.
Bodo Dressel
Grimmelshausen
Fotos. Pixabay / Privat
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