Was Sie gerade betreiben, ist das Eingeständnis des Versagens Ihrer Person in dieser Krisenzeit und die des Landratsamtes
Leserbrief. Sehr geehrter Herr Landrat Müller, zu ihren teilweise skurrilen Auftritten in den Medien mag sich jeder sein Urteil bilden. Wäre die Situation nicht so brenzlig würde ich mich über ihre Spitznamen „Lockdown-Müller“, „Plattmach-Müller“ oder „Kein-Plan-Müller“ sogar amüsieren. Nicht, dass Sie auf eine falsche Fährte kommen. Diese Spitznamen sind nicht von mir. Sie kommen aus unserer Mitte. Das liegt mir fern Sie damit zu titulieren, viel zu besorgniserregend ist die Lage im Landkreis Hildburghausen.
Jetzt fordern Sie die Schließung ALLER Schulen und KITAS im Kreis und schieben den „schwarzen Peter“ an die Landesregierung. Ja – die böse ROT-ROT-GRÜNE Regierung. Vergessen Sie dabei nicht, auch Ihre Partei ist inoffizieller Koalitionspartner. Ich zitiere Sie: „Das ist für mich eine rein politische Entscheidung. Thüringen hat erklärt, Schulen keinesfalls zu schließen. Ohne auf die prekäre Lage hier im Landkreis Rücksicht zu nehmen, bleibt das Land bei seiner Entscheidung. Das kann ich nicht nachvollziehen.“ Warum will man sie offen halten? Später dazu mehr.
Nachvollziehen kann ich bei Ihnen so manches nicht. Im März/April als der Landkreis fast überhaupt nicht mit dem Corona-Virus betroffen war, hörte ich den Landrat Müller nicht, dass es unverhältnismäßig sei, alle kulturelle Einrichtungen, Geschäfte und Seniorenheime zu schließen. Da schossen Sie über das Ziel eindeutig hinaus.
Apropos „UNVERHÄLTNISMÄSSIG“: Ich gebe Ihnen einmal eine Einschätzung eines Rechtsexperten an die Hand: „Eines ist klar: Die beschlossenen Maßnahmen sind für viele Menschen mit gravierenden Grundrechtseingriffen verbunden. Gastronomie und Kultureinrichtungen müssen schließen, Künstler können nicht mehr auftreten – das ist eine Einschränkung der Berufsfreiheit. Kontaktbeschränkungen und Feierverbote greifen hingegen in die allgemeine Handlungsfreiheit ein. Die Liste ließe sich fortführen. Aber: Das Grundgesetz selbst erlaubt solche Eingriffe in Grundrechte, wenn die Maßnahmen ein legitimes Ziel verfolgen und verhältnismäßig sind.“
Ein legitimes Ziel ist in einer Pandemie schnell gefunden: die Gesundheit der Bürger zu schützen. Der Staat hat gegenüber den Bürgern sogar eine Schutzpflicht und muss Gesundheitsgefahren eindämmen.
Verhältnismäßig sind die Maßnahmen, wenn sie geeignet sind, das Ziel zu erreichen. In der jetzigen Lage stellt sich also die Frage: Kann man mit den vereinbarten Beschränkungen überhaupt das Ziel erreichen, die Bürger vor einer Ansteckung mit dem Coronavirus zu schützen – oder laufen die Maßnahmen ins Leere? Bei einigen bin ich skeptisch.
Die Gerichte werden auch prüfen, ob die Schließungen und Verbote als harte Mittel erforderlich sind. Die Betreiber berufen sich auf ihre ausgefeilten Hygienekonzepte. Die Frage also: Reichen diese, um Ansteckungen zu vermeiden? Dann wären die Grundrechtseingriffe zu hart. Der Deutsche Hotel- und Gaststättenverband (Dehoga) prüft juristische Schritte gegen die Maßnahmen. „Vieles hänge davon ab, ob die in Aussicht gestellten Finanzhilfen zügig und umfassend bei den Betrieben ankämen,“ sagte Dehoga-Hauptgeschäftsführerin Ingrid Hartges auf Anfrage der ARD-Rechtsredaktion. „Wichtig sei, dass die Hilfen für alle Unternehmen der Branche gelten.“ Wollen Sie, dass die wenige Gastronomie den Winter nicht mehr überlebt?
Unverhältnismäßig werden Maßnahmen auch mit der Zeit, die Geschäfte und Gewerbe offenzulassen, nicht aber die Restaurants und die kulturellen Einrichtungen, wenn zwischen Stühlen, Tischen und Sitzreihen genügend Raum bleibt und ein geordneter Einlass und Ausgang möglich ist?
Ich gebe Ihnen also in Teilen Recht, dass man eine neue Bewertung bei Schulen oder KITAS vornehmen sollte. Doch was passiert bei einer Schließung? Wer betreut die Kinder?
Meine Ideen von Betreuungspaten wurden abgelehnt. Ich glaube Sie wissen gar nicht, was in meiner Amtszeit an Ideen von Bürgern eingebracht wurden – doch deren Umsetzung aufgrund von Reibereien an meiner Amtsführung nicht vorangebracht wurden. Wollen Sie die Vereinsamung, die depressiven Stimmungen von Personengruppen vorantreiben?
Wer seine Kinder selbst betreuen muss, weil Schulen und Kindergärten geschlossen sind, und dadurch Lohneinbußen erleidet, hat unter Umständen Anspruch auf eine Entschädigung. Diese Regel hat der Gesetzgeber im März beschlossen. Ist das bekannt? Haben Sie dies nach außen getragen?
Die Neuregelung betrifft erwerbstätige Eltern, die ihre Kinder selbst betreuen müssen, weil deren Schule oder Kindertagesstätte aufgrund staatlicher Anordnung geschlossen ist. Erleiden sie einen Verdienstausfall, erhalten sie eine Entschädigung in Höhe von 67 Prozent des Verdienstausfalls, höchstens jedoch 2.016 Euro im Monat.
Der Anspruch besteht für höchstens sechs Wochen und auch nur, wenn die Kinder noch keine zwölf Jahre alt sind. Ausnahmen gibt es für Eltern von Kindern mit Behinderung, die auf Hilfe angewiesen sind. Der Anspruch besteht gegenüber dem Arbeitgeber. Dieser kann sich das Geld aber von der zuständigen Behörde zurückholen. Die Regelung gilt seit dem 30. März 2020 und bleibt zunächst bis zum 31. Dezember 2020 in Kraft.
Der Anspruch besteht nur dann, wenn die Eltern keine zumutbare Betreuungsmöglichkeit für das Kind sicherstellen können. Dies müssen sie der zuständigen Behörde und gegebenenfalls auch dem Arbeitgeber gegenüber darstellen können. Und da fängt die Bürokratie wieder an. Wie viele Menschen beklagen sich, dass diese Hindernisse zu groß sind. Was tun Sie, um den Menschen zu helfen. Man muss auch die Folgen bedenken, nicht nur immer alles zumachen.
Der Anspruch besteht also nicht, wenn eine Notbetreuung besteht, auf die die Eltern zurückgreifen können oder wenn sie die Möglichkeit haben, für die Betreuung auf Familienmitglieder oder Freunde zurückzugreifen. Eine Betreuung durch die Großeltern dürfte dagegen nicht zumutbar sein, weil diese in der Regel zu einer Risikogruppe zählen. Ein Anspruch besteht auch dann nicht, wenn ein Elternteil wegen Kurzarbeit nicht arbeitet oder im Homeoffice arbeiten kann. Aus Sicht des Gesetzgebers ist dann nämlich die Betreuung gewährleistet. Ebenfalls entfällt der Anspruch, wenn die Einrichtung beispielsweise in den Ferien ohnehin geschlossen ist. Auch den Abbau von Überstundenkonten sieht der Gesetzgeber gemäß der Begründung als zumutbar an. Er äußert sich aber nicht zu der Frage, ob die Beschäftigten auch den Resturlaub oder gar Urlaub für das laufende Jahr vorrangig nehmen müssen.
Der Deutsche Gewerkschaftsbund begrüßt den Entschädigungsanspruch grundsätzlich, kritisiert die Maßnahme zugleich aber als nicht weitreichend genug. So benötigten beispielsweise nicht nur Kinder unter 12 Jahren eine Betreuung. Diese Grenze sei mindestens bei 14 Jahren, besser noch bei 16 Jahren anzusetzen. Auch der Höhe nach sei die Entschädigung für die meisten Eltern ein unzumutbarer Einschnitt. Die Gehälter in Thüringen sind bundesweit am niedrigsten, was auf die langjährige CDU-Regierungen zurückzuführen ist. Ich kenne noch den Slogan: „Billiglohnland Thüringen“. Die Entschädigung müsse bei mindestens 80 Prozent des Verdienstausfalls liegen. Auch fehle eine Regelung für diejenigen Beschäftigten, die aufgrund behördlich angeordneter Betriebsschließung, beispielsweise in Schulen, Kitas, Gaststätten und Geschäfte vom Arbeitgeber nicht mehr beschäftigt werden. Haben Sie an dieses Folgen gedacht? Das unausgereifte Vorpreschen Ihrerseits geht mit existentiellen Folgen der Betroffenen einher.
Nun stelle ich einmal eine ketzerische Frage an Sie. Es ist doch richtig, dass Hildburghausen deshalb zum bundesdeutschen Hotspot wurde, weil zwei private Feiern mit rund 80 Gästen stattfanden. Ich selbst hatte im September eine Privatfeier, bei der alle Gäste vorab einen Corona-Test abhalten mussten. Nur bei einem negativen Test wurden diese zur Feier eingeladen. Weshalb ist dieses in Hildburghausen nicht geschehen? Das sind intelligente Hygiene-Konzepte und sogar recht einfache. Ich möchte die Schuld nicht Ihnen alleine geben. Die Unachtsamkeit der Bürger ist das größte Problem. Doch eine mangelnde Kommunikation bzw. die miserable Öffentlichkeitsarbeit des Landratsamt sind ein Teil des Ganzen.
Sie haben die Chance verspielt neue Wege zu gehen, die Bürger mitzunehmen und eine nachhaltige Arbeit mit den Bürgerinnen und Bürger zu machen. Doch auf diese Idee sind sie nicht gekommen. Sind Sie nach 26 Jahren im Amt beratungsresistent? Leider ist es nun passiert und wir müssen mit den Folgen leben. Statt wie bisher Personen zu suchen, die zu einem Infizierten Kontakt hatten, plädieren Virologen dafür, den Ursprung der Infektion zurückzuverfolgen. Es gehe darum, mögliche Cluster, Fall-Nester, zu finden. Dabei muss man zugrunde legen, dass rund 20 Prozent der Infizierten bei sogenannten Superspreading-Events für 80 Prozent der Weiterverbreitung verantwortlich sind. Alle anderen stecken niemanden oder nur wenige Personen an.
Auch ich bringe mich wieder ins Spiel. Was ist mit den angestoßenen Maßnahmen des Kreisseniorenbüros in meiner Amtszeit passiert? Wer versorgt die Gefährdungsgruppen wie ältere Senioren oder Gehbehinderte mit Lebensmittel. Wo ist der Lieferservice mit der Tafel? Alles schon vergessen? Sie warfen mir eine „ONE-MAN-SHOW“ vor. Diese „Show“ ist Ihnen doch nicht unbekannt. Doch was Sie gerade betreiben, ist das Eingeständnis des Versagens Ihrer Person in dieser Krisenzeit und die des Landratsamtes.
Das Versagen bei der Ausübung Ihres Amtes trägt dazu bei, dass die Bürger immer mehr den Glauben in Ihre Person verlieren und der Gegenwind immer größer wird. Zu Recht. Statt mit Eigenkritik voranzugehen. Sinnvolle und intelligente Konzepte voranzubringen, geben Sie allen und allem die Schuld und versuchen kritische Stimmen mundtot zu machen. So funktioniert es nicht. Ich möchte die Arbeit des Krisenstabes nicht schlecht machen, jeder versucht sicher das Beste. Doch es reicht nicht. Kritik anzunehmen – auch von außerhalb – zeigt Größe und ist von Nöten. Haben Sie diese Größe? Mein Glauben in Ihre Arbeit wird immer kleiner.
Ich bin dabei ein größeres Projekt für die Stadt Hildburghausen zu entwickeln, das ein neuer Meilenstein für ein besseres Miteinander und Solidarität ist. Nicht ein Gegeneinander. Sie sind leider kein Versöhner sondern ein Spalter. Das ist nicht meine persönliche Meinung. Es ist die, der Bürgerinnen und Bürger des Landkreises. Rücktrittsforderungen werden immer lauter.
Wenn es stimmt, dass Sie unlängst eine Privatreise auf Zypern unternahmen, befeuert dies die Kritik. Den Bürgerinnen und Bürgern verlangt man „harte Maßnahmen“ ab und selber hält man sich nicht an die verordneten Maßgaben. Ist das Ihr Rechtsbefinden? Gehen Sie einmal in sich. Laden Sie doch mal kritische Bürger ein, sprechen Sie mit Ihnen. Bilden Sie einen „runden Tisch“, machen Sie einen Gedankenaustausch mit allen Gruppen. Niemand will Ihnen persönlich etwas Schlechtes. Das sollten Sie bedenken. Man ist „nur“ mit Ihrer Krisenbewältigung äußerst unzufrieden. Es zeigt immer mehr, dass eine allzu lange Amtszeit nicht förderlich ist, man oft über den Dingen steht und Kritik nicht mehr zulässt. Hinter vorgehaltener Hand ist Ihr Umgangston im Landratsamt immer mehr ein Problem. Ein frischer Wind täte gut.
Hans-Jürgen Rumm
Hildburghausen
Foto: Südthüringer Rundschau
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